Wie Die Geraderichtung Des Pferdes Durch Schulterherein Verbessert Wird

Einleitung

Ich habe in Otto De La Croix’s Buch “Natürliche Reitkunst” (1910) eine interessante Beschreibung gefunden, wie man die Geraderichtung des Pferdes im Schulterherein verbessern kann, indem man die Konterlektionen Renvers und Konterschulterherein verwendet. Das ist ein sehr gutes Beispiel für die Nützlichkeit der Konterlektionen in der Ausbildung des Pferdes und insbesondere bei der Korrektur der natürlichen Schiefe. Ich gebe hier zunächst das Exzerpt aus dem Buch wider und erkläre anschließend ein wenig De La Croix’ Vorschlag.

Otto De La Croix, 19103, 125-128:

Das Treiben in die linke Hand hinein (Schulterherein rechts beim links hohlen Pferd, TR) wächst immer mehr, je mehr der stets voller werdende Zügel dem Schwunge des linken Hinterfußes sich entgegenspannen kann, und schließlich tritt der linke Hinterfuß schwungvoll gleich dem rechten in der Rechts-Schulterhereinstellung nach. Das Pferd geht gewissermaßen ein gut versammeltes Schenkelweichen; beide Hinterfüße schwingen energisch ab, beide Zügel haben kräftige Anlehnung.

Setzen wir nun dies vermehrte Treiben des linken Schenkels, Gegenstehen der linken Hand auch über diesen Standpunkt hinaus fort, so wird das linke Hinterbein immer wachsend und schließlich mehr als das rechte untertreten, dadurch hohlbiegend auf die ganze linke Seite und damit auch auf den Hals wirken, und nach einer gewissen Zeit wird eine Art Renvers entstehen.

Wir werden indes mit Bedauern konstatieren, daß das angeborene Abwärtsweichen des linken Hinterfußes nach außen von Zeit zu Zeit immer wieder angestrebt wird. Ist der linke Schenkel nicht sehr aufmerksam, fällt hier und da der linke Hinterfuß wieder aus.

Unser williges Pferd für diese kleinen Rückfälle in den alten Fehler zu bestrafen, wäre hart und ungerecht. Wir müssen daher auf ein Mittel sinnen, dies mit Ruhe und Fassung abzustellen.

Unser Pferd ist, wiederum nach einiger Übung in dem renversartigen Gange, links gut hohlgebogen – sollte es da die Anforderung weigern, etwa 1/16 Volte links zu wenden und dadurch in Kontra-Schulterhereinstellung zu kommen? Kaum! Denn die Biegung des Pferdes bleibt genau dieselbe, nur die Bewegungsrichtung ändert sich.

Das Pferd ist damit aber ahnungslos in eine Falle gegangen, denn diese scheinbar so harmlose Änderung der Bewegungsrichtung seines Körpers in die von links nach rechts ist sehr bedeutsam. Nicht mehr vermag das linke Hinterbein abwärts zu treten, vielmehr kann es sich nur der Schenkelhilfe widersetzen (und dann kommt der Sporn, weich, aber unerbittlich) oder – es muß nun nach der Pferdemitte, d.h. unter die eigene und des Reiters Last, treten.

Durch diese heilsame Übung gewinnt das linke Hinterbein immer mehr Biegsamkeit, und nach einiger Zeit genügt ein Minimum von linkem Schenkel, um die Links-Schulterhereinstellung zu erhalten.

Wir steigern die Übung immer mehr, aber unser Pferd ist nicht nur willig, sondern auch klug. Es wird bald fühlen, daß es auch in dieser Abstellung das linke Hinterbein schonen kann. Es braucht dazu nur nunmehr das rechte Hinterbein abwärts vom Pferdeleib fußen zu lassen und den linken Hinterfuß, anstatt über jenen hinweg, an ihn heranzusetzen, um der unsympathischen Biegung zu entgehen.

Aber auch wir schlafen nicht, haben uns gewöhnt, nicht in der Lektion an sich, sondern in der Art und Weise, wie sie geritten wird, das Wesen derselben zu suchen.

Unter Erhaltung der Links-Schulterhereinstellung holen wir nun den rechten Hinterfuß mit dem gleichseitigen Schenkel mehr und mehr heran, verhindern sein Ausfallen und zwingen so das linke Hinterbein, schränkend über das rechte hinwegzutreten und dadurch sich stark zu biegen. Dadurch, daß nun die Last von links nach rechts schwingt und der rechte Schenkel immer kräftiger vortreibt, wird aber der rechte Zügel immer voller und voller werden: „wir werden schließlich mit ihm gegenzuspannen gezwungen sein.“

Wie immer, wird auch hier nach einem kleinen Zeitraume das Gegenschwingen des Pferdes an die stäte, den Druck weich zurückweisende Hand in Abstoßen von dieser sich umsetzen. Dann aber wird das rechte Hinterbein, welches wir unentwegt verbessern, leichter, bequemer und immer mehr untertreten. Es wird dies schließlich in solchem Grade tun, daß es hohlbiegend auf die ganze rechte Seite des Pferdes wirkt, und ehe wir es noch ahnen, hat das Pferd uns rechts gebogen gesetzt und geht selbst – Rechtstravers.

Diskussion

De La Croix benützt als Beispiel ein links hohles und rechts steifes Pferd. Wenn man auf einem links hohlen Pferd versucht, ein Schulterherein zu reiten, wird die Vorhand typischerweise (zu)  leicht ins Innere der Bahn kommen, während die Hinterhand eher nach außen ausweicht, was dazu führt, dass das äußere Hinterbein nicht unter den Körper tritt, sondern vom Schwerpunkt weg in Richtung Band. Gleichzeitig wird sich das Pferd auf den inneren Zügel stützen und sich hinter dem äußeren verkriechen, wodurch dann oft eine Halsbiegung nach außen entsteht.

Als Korrektur empfiehlt De La Croix, das äußere (linke) Hinterbein mit dem äußeren Unterschenkel nach vorne unter den Körper zu treiben, sodass es nicht länger an der Bande entlang schrammen kann. Dadurch fängt die linke Körperseite des Pferdes an, sich zu dehnen, sodass es früher oder später mit dem äußeren Zügel Kontakt aufnimmt.
De La Croix schreibt, dass das Pferd dann ein “gut versammeltes Schenkelweichen” ausführt. Das ist eine interessante Bemerkung, da in unserer heutigen Terminologie das Schenkelweichen keine versammelnde Lektion ist und das äußere Hinterbein eher vom Körper weg tritt, als vorwärts und unter die Last zu treten. Die deutschen Autoren des 19. Jahrhunderts schienen das Schenkelweichen jedoch anders zu definieren als wir heute. Sie bezeichnen manchmal das Schulterherein als Schenkelweichen weil das innere Hinterbein dem inneren Reiterschenkel weicht und vor das äußere Hinterbein tritt. Ich vermute, dass dies hier ebenfalls vorliegt und De La Croix das Übertreten des inneren Hinterbeins anspricht. So lange das äußere Hinterbein im Schulterherein nach außen in Richtung Bande ausweicht, kann das innere Hinterbein nicht vor das äußere treten, da sich dieses außer Reichtweite befindet. Sobald der Reiter das äußere Hinterbein “einfängt” und vorwärts unter die Last treibt, kann das innere Hinterbein dem inneren Schenkel korrekt weichen und vor das äußere Hinterbein treten.

Die nächste Phase der Korrektur ist interessant. De La Croix empfiehlt, das äußere Hinterbein noch mehr vorwärts und unter die Last zu treiben, sodass das Pferd anfängt, sich nach außen zu biegen, wodurch eine Renvers Stellung entsteht. Da das rechte Hinterbein jedoch nach wie vor das übertretende ist im Renvers auf der rechten Hand mit Linksbiegung, wird das linke Hinterbein auch nach wie vor versuchen, in Richtung Bande zu entkommen, wenn die Reiterin nicht sehr aufmerksam ist. Das Problem ist damit also noch nicht behoben.
Daher dreht De La Croix das Pferd dann, indem er eine 1/16 Volte nach links reitet, wodurch das Pferd in eine Konterschulterherein Stellung gebracht wird. Das Konterschulterherein fühlt sich für das Pferd leichter an als der Renvers, weil das Pferd gegen die Bewegungsrichtung gebogen ist und  nun das innere Hinterbein (im Sinne der Biegung, das äußere im Sinne der Reitbahn) das übertretende ist. Deshalb wird das Pferd dem Reiterwunsch sehr gerne nachkommen. Das Konterschulterherein ist ein äußerst effektives Werkzeug, um das Hinterbein, das sich neben der Bande befindet, unter den Körper zu bringen, sodass man es anschließend besser mit dem Boden und dem Gewicht verbinden kann, indem man sich “drauf setzt” und es beugt.

Wenn ich ein Schulterherein reiten will und spüre, dass das äußere Hinterbein ausweicht und das Pferd eine fehlerhafte Renvers Stellung annimmt, gehe ich oft genauso vor, wie De La Croix es empfiehlt. Ich drehe das Pferd in eine Konterschulterherein Stellung, bringe das Hinterbein unter den Körper, das sich neben der Bande befindet und von da wechsele ich kurz die Biegung und Stellung zu einer Travers Stellung, bevor ich zum Schulterherein zurückkehre. Der Travers ist anstrengender für das Pferd als das Schulterherein, sodass das Pferd erleichtert sein wird, wenn es vom Travers zum Schulterherein übergehen darf. Das muss meistens mehrfach wiederholt werden, da die Schiefe eine Angewohnheit ist und das äußere Hinterbein im Schulterherein meistens früher oder später wieder ausweichen wird.

De La Croix fährt fort, indem er schreibt, dass das Pferd bald entdecken wird, dass es der Konterschulterherein Stellung (die eine Schulterherein links Stellung auf der rechten Hand darstellt, mit der Bande auf der “falschen” Seite des Pferdes) entkommen kann, indem es entweder den rechten Hinterfuß hinten heraushängen lässt, oder indem es die Kruppe insgesamt nach rechts fallen lässt. Tritt das äußere Hinterbein im Schulterherein nicht unter den Körper, kann das innere Hinterbein nur neben, aber nicht vor, dieses treten, da das äußere Hinterbein außer Reichweite ist.

Die Korrektur ist im Wesentlichen dieselbe wie im Schulterherein: der äußere Reiterschenkel (im Sinne der Biegung, es ist der innere im Sinne der Reitbahn) treibt das äußere Hinterbein vorwärts unter den Körper, bis das Pferd eine Travers rechts Stellung anbietet. Aus dem Travers rechts, kann die Reiterin das Pferd wiederum durch eine 1/16 Volte in eine Schulterherein rechts Stellung drehen sodass man genau wieder am Ausgangspunkt herauskommt.

Die Übung wird zu einem Kreislauf: Schulterherein > Ausweichen in eine falsche Renvers Stellung > Konterschulterherein als Korrektur > Renvers > Konterschulterherein > Travers > Schulterherein.

Diese Abfolgen von Seitengängen sind äußerst effektive Mittel, um die Hüften und die Wirbelsäule des Pferdes in beide Richtungen geschmeidig zu machen, und sie involvieren Lastwechsel zwischen den beiden Körperseiten, sodass das Pferd lernt, sich gleich leicht mit dem linken und rechten Beinpaar zu stützen.

Zusammenfassung

Dies ist eine sehr gute Beschreibung, wie ein denkender Reiter die Versuche des Pferdes korrigieren kann, sich den Anforderungen des Schulterhereins zu entziehen, indem er mit Hilfe der anderen Seitengänge beide Hinterbeine unter den Körper bringt. Diese etwas indirekte Vorgehensweise ist wesentlich effektiver als der Versuch, die korrekte Biegung auf direktem Weg durch Ziehen am inneren Zügel herzustellen, oder die Anlehnung am äußeren Zügel durch “mehr inneren Schenkel und mehr äußeren Zügel” zu erzeugen, was ja leider so oft die Standardempfehlung vieler Reitlehrer ist. Diese direkten Herangehensweisen machen das Problem nur schlimmer, während das indirekte Vorgehen dem Pferd ein besseres Körpergefühl vermittelt und die Hinterbeine sowohl geschmeidiger als auch kräftiger macht, sodass es ein korrektes Schulterherein leicht ausführen kann, ohne das Gefühl zu bekommen, dass es sich entziehen muss.