Widerstände auflösen

Ernst Friedrich Seidler war als ziviler Stallmeister an der Kavalleriereitschule in Schwedt a.d.Oder  angestellt. Er hatte sich mit der erfolgreichen Ausbildung schwieriger Pferde und der Korrektur  von verrittenen Pferden einen Namen gemacht. Er schrieb zwei Bücher, die voller interessanter Beobachtungen und praktischer Tipps stecken. Zwei seiner wichtigsten Erkenntnisse waren die Tatsache, dass Pferde, die schwierig zu reiten sind, meistens auch ein schwieriges Gebäude besitzen und dass vielen Rittigkeitsproblemen eine eingeklemmte Ohrspeicheldrüse zugrunde liegt.

Im folgenden Exzerpt gibt er ein Beispiel dafür, wie eine Ohrspeicheldrüse Probleme im Kruppeherein verursachen kann und wie man diese Probleme mit Hilfe von Konterlektionen und seitlichem Abbiegen im Halten lösen kann.

Ernst Friedrich Seidler, 1846, 228f.:

“Es ereignet sich häufig, daß Pferde dem auswärtigen Schenkel, das eine vielleicht dem rechten, das andere dem linken, nicht allein nicht achtsam genug weichen, sondern sich sogar gegen denselben opponiren, auch wohl nach dem Sporn schlagen. Die Ursache hierzu liegt in den meisten Fällen im Ganaschenzwange der entgegengesetzten Seite (der Seite, wohin das Pferd gehen soll). Das Erste, was wir thun müssen, um die geregelte Fußbewegung nicht zu stören, ist, daß wir in ganz gemäßigten Biegungen und halben Abstellungen die Lection einleiten. Wenn wir nun stufenweise diese Biegungen steigern, und wir kommen bis zur Grenze der Opposition, so biegen wir, wenn die stärkere Wirkung des auswendigen Zügels derselben nicht zu begegnen vermag, das Pferd in diesem Moment mit der Kopfstellung nach der andern Seite, z.B. bei Travers rechts zu Contra-Schulterherein links, und bei Renvers rechts zu richtig Schulterherein links, und zu so viel Tritten, als erforderlich ist, um die Hinterhand zum zweckmäßigen Mitgehen zu bringen; ist dies erfolgt, so leiten wir wieder stufenweise die richtigen Biegungen ein. Durch solche Contra-Biegungen, die wir mehrmals bei diesen Lectionen, und einige Tage nach einander, wiederholen, unterdrücken wir das Drängen gegen den auswendigen Schenkel und das Schlagen nach dem Sporn. Da nun aber der Ganaschenzwang die Hauptursache zur Opposition gegen den Schenkel gab, so müssen wir auch darauf bedacht sein, den Hauptgrund durch Abbiegen im Stillstehen und Wendungen auf der Stelle oder in kleinen Volten zu beseitigen, und dies können wir in folgender Weise einleiten:

Wir führen das Pferd mitten nach der Bahn, stellen es uns gut aufgerichtet in die Hand und biegen es auf beiden Seiten ab, auf der Zwangsseite wiederholentlich. Hat dasselbe den Zwang rechts, so machen wir erst eine kleine Volte in Schulterherein links, um seine Achtsamkeit auf den linken Schenkel hinzuleiten; sobald es dem folgt, stellen wir es geradeaus und wiederholen einige Tritte, dann nehmen wir die beabsichtigte Kopfstellung, führen es zur kleinen Renversvolte Tritt vor Tritt an, sobald es sich zu einem Tritte weigert, halten wir an, biegen aufs neue ab, nach dem Abbiegen fahren wir mit der Wendung fort, und sollte dennoch Opposition gegen den Schenkel eintreten, so biegen wir gleich auf einige Tritte in Volte Schulterherein um, und sowie es dem Schenkel weicht, kehren wir wieder zur Renvers-Stellung zurück.”

In der Situation, die Seidler beschreibt, ist das Pferd links hohl und rechts steif, mit einer Steifheit in der rechten Ganasche, die von der Ohrspeicheldrüse verursacht wird. Dieser Ganaschenzwang äußert sich in einem Widerstand gegen das Kruppeherein rechts. Das Pferd “will” sich nicht rechts biegen und dem linken Schenkel weichen. Es schlägt sogar gegen den linken Schenkel und Sporn.

Seidler empfiehlt, das Kruppeherein rechts mit sehr geringer Abstellung und Biegung anzufangen und beides allmählich zu steigern, bis der Reiter spürt, wie sich ein Widerstand gegen den linken Schenkel aufbaut. In diesem Moment wechselt er die Biegung nach links, d.h. aus dem Kruppeherein rechts wird ein Konterschulterherein. Beziehungsweise wenn man auf der linken Hand Renvers geritten ist, wechselt man die Biegung zum Schulterherein links.

Seidler erhält die Schulterherein links Stellung oder die Konterschulterherein Stellung auf der rechten Hand nur so lange wie nötig, bis beide Hinterbeine richtig unter die Last treten. Dann wechselt er die Biegung zum Kruppeherein rechts oder zum Renvers auf der linken Hand.

Abwechseln zwischen Kruppeherein und Konterschulterherein oder zwischen Renvers und  Schulterherein beseitigt im Laufe der Zeit den Widerstand gegen den äußeren Schenkel.

Da die Ursache des Widerstandes jedoch im Ganaschenzwang liegt, muss die Reiterin diesen Körperteil ebenfalls ansprechen. Zu diesem Zweck hält Seidler in der Mitte der Bahn an und biegt die Ganasche seitlich auf beide Seiten, wobei er die Zwangsseite etwas häufiger biegt als die hohle.

Ist das Pferd rechts steif, reitet er eine Volte links im Schulterherein, um das linke Hinterbein mehr unter den Körper zu bringen und das Pferd auf den linken Schenkel aufmerksam zu machen. Es geht nicht ganz eindeutig aus dem Text hervor, was der nächste Arbeitsschritt ist. Seidler schreibt, dass er das Pferd geradeaus stellt und einige Tritte wiederholt. Es ist aber nicht klar, was er für einige Tritte wiederholt. Vielleicht die Schulterhereinstellung?

Nach einigen Tritten reitet Seidler eine Renversvolte nach links um zu testen, ob das Pferd jetzt den linken Schenkel und den rechten Zügel annimmt. Falls es noch immer Widerstand leistet, hält  Seidler an und wiederholt das seitliche Biegen der Ganasche. Dann setzt er die Renversvolte fort und wenn das Pferd nicht nachgibt, wechselt er die Biegung zum Schulterherein. Sobald das Pferd sich in der Schulterhereinvolte loslässt, wechselt Seidler die Biegung erneut zum Renvers.

Es klingt also so, als ob Seidler den Widerstand gegen den Schenkel der hohlen Seite, welcher vom Ganaschenzwang auf der steifen Seite ausgelöst wird, durch den wiederholten Wechsel der Biegung zwischen Kruppeherein und Konterschulterherein, sowie zwischen Renvers und Schulterherein überwindet. Darüberhinaus pariert er durch und mobilisiert die Ganasche durch seitliches Biegen im Halten.

In meiner eigenen praktischen Erfahrung habe ich oft beobachtet, dass Widerstände im Genick und in der Hinterhand sich gegenseitig bedingen, sodass wir sowohl das Genick als auch die Pferdehüften ansprechen müssen, um das Problem zu beseitigen. Ich habe gute Erfolge damit erzielen können, dass ich abwechsle zwischen Übungen, welche die Hinterhand durch Übertreten mobilisieren, inklusive der Konterlektionen, und dem Lösen des Genicks durch seitliche Biegeübungen. Wenn man mit diesem Gedanken spielt, wird man beobachten, dass sich die Pferdehüften ein wenig entspannen, wenn man das Genick ein etwas mehr lösen kann und wenn man die Hinterhand mobilisiert, wird sich auch das Genick entspannen.