Vom inneren Schenkel zum äußeren Zügel

Einleitung

Sie kennen wahrscheinlich alle die Phrase “Reit vom inneren Schenkel zum äußeren Zügel”. Lehrer lieben sie. Reiter, die anderen gut gemeinte Ratschläge geben wollen, sagen gerne: “innerer Schenkel, äußerer Zügel!” Das klingt gut. Es gibt ihnen den Anschein, als würden sie etwas von der Sache verstehen. Aber was bedeutet das? Warum soll ich vom inneren Schenkel zum äußeren Zügel reiten? Und wie mache ich das?

Der große Zusammenhang

Ziel

Um den “Bumper Sticker Slogan” “vom inneren Schenkel zum äußeren Zügel” verständlich zu machen, muss ich weiter ausholen und ganz von Anfang an eine Übersicht über die biomechanischen Zusammenhänge geben.

 Ein guter Ausgangspunkt ist es, wenn wir uns fragen: Was ist unser Traumziel beim Reiten? Und zwar nicht im Sinne von schweren Lektionen oder der Teilnahme an den Olympischen Spielen, sondern was die Qualität der Grundgangarten angeht? Für die alten Meister war die Qualität der Gänge - oder der Reine Gang, wie sie ihn nannten - das Allerwichtigste überhaupt. Nichts war wichtiger als die Qualität der Grundgangarten, da sie direkten Einfluß darauf nimmt, ob das Pferd gesund bleibt oder nicht und ob es angenehm zu reiten ist oder nicht.

 Meine eigene Vision des perfekten Ganges ist, dass er elastisch, bequem, rund, energisch und leicht ist. Aus gymnastischer Sicht erfordert dies ein Pferd, das gerade gerichtet, ausbalanciert und geschmeidig ist. Dies wiederum erfordert, dass beide Hinterbeine weit genug unter den Körper treten und den Rücken von unten unterstützen, indem sie ihre Gelenke beugen. Wenn die Hinterbeine sich nicht unter dem Körper beugen, fällt der Rücken durch. Das Pferd geht entweder über den Zügel oder rollt sich ein, und alle Rundheit, Leichtigkeit, Geschmeidigkeit und “Fluffigkeit” ist verloren.

 

Hindernis

Leider bildet jedoch die natürliche Schiefe des Pferdes ein großes Hindernis für das Engagement und die Beugung beider Hinterbeine unter dem Körper, da das Hinterbein der steifen/konvexen Seite dazu neigt, ein wenig zurückzubleiben, während das Hinterbein der hohlen/konkaven Seite dazu neigt, neben dem Körper herzulaufen, anstatt unter die Last zu treten. Deshalb müssen wir zuerst beide Hinterbeine unter die Körpermasse bringen, bevor wir diese benützen können, um die Hinterbeine zu beugen, sodass sie den Rücken beschützen und ein effektives Stoßdämpfersystem bilden können.

 

Engagement des inneren Hinterbeins

Ein Hinterbein lässt sich am leichtesten unter die Körpermasse bringen, wenn es das innere ist (im Sinne der Biegung), aufgrund der seitlichen Biegung der Wirbelsäule und der Tatsache, dass die innere Pferdehüfte dabei leicht vorgerichtet ist. Wir können entweder Zirkel und Volten auf einfachem Hufschlag dazu benützen, eine seitliche Biegung zu herzustellen und das innere Hinterbein zu engagieren, oder wir können übertreten lassen mit Biegung bzw. Stellung gegen die Bewegungsrichtung, wie z.B. Zirkel vergrößern (der sogenannte 1. Test des inneren Hinterbeins), Schultervor/Schulterherein (der sogenannte 2. Test des inneren Hinterbeins auf dem Zirkel), Viereck Verkleinern/Vergrößern, Vorhandwendung in der Bewegung. Die Reiterhilfe, die mit dem inneren Hinterbein kommuniziert, um es mehr unter die Last treten zu lassen, ist der innere Unterschenkel (der innere Schenkel Teil von “innerer Schenkel, äußerer Zügel”).

 Übertreten ist einerseits anstrengender als geradeaus reiten, aber es ist andererseits auch effektiver und besitzt darüberhinaus die Eigenschaft, dass es das Gewicht auf das Hinterbein überträgt, das nicht übertritt, d.h. bei schulterhereinartigen Lektionen ist es das äußere Hinterbein. Verlagert man das Gewicht auf das äußere Hinterbein, so hat es das innere Hinterbein leichter unter- bzw. überzutreten.

Will man dagegen das äußere Hinterbein mehr unter die Last bringen, kann man entweder die Hand wechseln oder man kann sogenannte Konterlektionen reiten, wie Konterschultervor oder Konterschulterherein (der sogenannte 3. Test des äußeren Hinterbeins auf dem Zirkel), bei denen das Pferd nach außen gestellt bzw. gebogen ist. Entscheidet man sich dafür, die Hand zu wechseln, um das andere Hinterbein anzusprechen, eignen sich Achten und Schlangenlinien sehr gut.

Der äußere Zügel

Engagiert man das innere Hinterbein in Richtung des äußeren Vorderbeins, sodass es dichter am äußeren Hinterbein vorbei tritt und näher am Schwerpunkt auffußt, dehnen sich die Muskeln auf der Außenseite der Biegung und das Pferd dehnt sich in den äußeren Schenkel und Zügel der Reiterin. Erst wenn die Reiterin das Pferd in ihrer äußeren Hand spüren kann, ist der äußere Zügel in der Lage, mit dem Pferd zu kommunizieren, aber nicht vorher. So lange der äußere Zügel leer ist, kann man nichts mit ihm anfangen.

Sobald das Pferd den Kontakt zum äußeren Zügel aufnimmt, kann man mit dem Recycling der Energieimpulse beginnen, die vom vorschwingenden inneren Hinterbein ausgehen, indem man eine Verbindung durch den äußeren Hinterfuß zum Boden herstellt, wodurch der Kreislauf der Hilfen geschlossen wird.

Die häufigste Hilfe, die zur Beugung des äußeren Hinterbeins zwischen dem Boden und der Last verwendet wird, ist die halbe Parade am äußeren Zügel, die im Moment des Auffußens des äußeren Hinterbeins (der sogenannte 1. Test des äußeren Hinterbeins) erteilt wird.

 Das äußere Hinterbein

Das äußere Hinterbein übt in Wendungen und Seitengängen mit Biegung gegen die Bewegungsrichtung die Funktion eines Ankers oder Stabilisators aus. Die alten Meister pflegten zu sagen, dass die Qualität einer Wendung nur so gut ist wie die Verbindung der Reiterin zum äußeren Hinterbein. Das gilt für 20m Zirkel genauso wie für Volten und sogar Pirouetten.

Wenn das äußere Hinterbein sich abkoppelt, fällt das Pferd in der Regel auf die innere Schulter und stellt sich nach außen.

Sobald das äußere Hinterbein mit dem Boden verbunden ist und die Reiterin genau bestimmen kann, wie stark es sich beugt und welchen Lastanteil es trägt, ist das innere Hinterbein in der Lage frei vorwärts zu schwingen. Der Brustkorb kann nach außen schwingen und die Wirbelsäule kann sich in ihrer gesamten Länge biegen.

Das Engagement des inneren Hinterbeins und die Beugung des äußeren Hinterbeins stehen in einer Wechselbeziehung zu einander. Je weiter das innere Hinterbein untertritt, desto mehr kann die Reiterin das äußere Hinterbein beugen. Und je mehr sich das äußere Hinterbein beugt, desto leichter ist es für das innere Hinterbein nach vorne zu schwingen.

Praktische Erwägungen

Aus dem bisher Gesagten kann man ersehen, wie wichtig es ist, dass beide Hinterbeine unter den Körper treten und den Rücken unterstützen, indem sie ihre oberen Gelenke beugen. Wie bereits erwähnt, neigt das Hinterbein der steifen Seite jedoch dazu, kürzer zu treten und hinten auszubleiben, da das Hinterbein der hohlen Seite nicht lange genug am Boden bleibt und dazu neigt, neben dem Körper herzulaufen, anstatt unterzutreten.

Das bedeutet, dass wir beide Hinterbeine engagieren und beugen müssen. Da es leichter ist, ein Hinterbein nach dem anderen zu engagieren und zu beugen als beide gleichzeitig, wechseln wir zwischen dem Engagieren und Beugen des linken und des rechten Hinterbeins ab. Aufgrund der  Bewegungsmechanik der Seitenbiegung ist es leichter das innere Hinterbein zu engagieren als das äußere.

 Biegung ersten Grades

Wenn wir das Pferd auf seiner steifen/konvexen Seite reiten, wird es anfangs mit dem inneren Hinterbein kürzer treten und sich auf die innere Schulter und den inneren Zügel lehnen. Die Kruppe wird nach außen schwingen und der äußere Zügel hat keine Verbindung. Die einfachste Korrektur besteht darin, einen Zirkel zu reiten und vom inneren Schenkel den Zirkel zu vergrößern (1. Test des inneren Hinterbeins). Legt sich das Pferd auf den inneren Zügel und bleibt dabei hinter dem äußeren Zügel, dann unterstützen der innere Schenkel und Zügel die Kreuz- und Gewichtshilfen der Reiterin beim nach außen Führen des Pferdes. Der innere Schenkel spricht das innere Hinterbein an und der innere Zügel die innere Schulter. Wenn der innere Zügel eine halbe Parade ins äußere Hinterbein gibt, sodass das Übergewicht vom inneren Vorderbein auf das äußere Hinterbein übertragen wird,  wird dies als der 2. Test des äußeren Hinterbeins bezeichnet.

Ab dem Moment, wo das Pferd anfängt, das Gewicht auf das äußere Beinpaar zu übertragen, beginnt die Wirbelsäule sich nach innen zu biegen. Dies wurde früher als “Biegung ersten Grades” bezeichnet, d.h. der innere Schenkel und Zügel bringen das Pferd an den äußeren Schenkel und Zügel, was zu einer Biegung nach innen führt. Bei jungen Pferden und Korrekturpferden bildet das oft den Anfang der Biegearbeit in der Bewegung.

Biegung zweiten Grades

Sobald das Pferd den äußeren Zügel entdeckt hat und Kontakt mit ihm aufnimmt, können wir mit seiner Hilfe die Energie recyclen und an die Hinterhand zurückschicken, sowie halbe Paraden mit dem äußeren Zügel ins äußere Hinterbein erteilen (1. Test des äußeren Hinterbeins). Dem äußeren Zügel kommt darüberhinaus die Funktion der Einrahmung des Halsansatzes sowie der Verbindung des Halsansatzes mit der Schulter zu, sodass der Hals nicht instabil werden und sich verbiegen kann. Ab diesem Zeitpunkt kann der innere Zügel sogar seitlich biegend einwirken um das Genick und die Ganasche zu mobilisieren, während der äußere Zügel für Stabilität sorgt und eine Verbindung zum äußeren Hinterbein aufrecht erhält. Wenn das Pferd die diagonalen Hilfen annimmt, nannten die alten Meister diese Art der Biegung, die “Biegung zweiten Grades”.

Pingpong

Wollen wir das andere Hinterbein ansprechen, das sich auf der Außenseite im Sinne der Reitbahn befindet, wechseln wir entweder die Hand oder wir bleiben auf derselben Hand und benützen eine Konterlektion (d.h. eine Lektion, in der das Pferd nach außen gestellt und gebogen ist). Häufige Handwechsel verhindern, dass ein Hinterbein sich verflüchtigt, weil es zu lange “ohne Aufsicht” bleibt. Das ist einer der Gründe, warum Achten und Schlangenlinien so effektiv sind.

Wenn wir jeweils nach wenigen Tritten zwischen dem Engagement des linken und des rechten Hinterbeins abwechseln, können wir das Pferd vom alten zum neuen inneren Schenkel schicken, sodass es zwischen ihnen hin und her rollt wie ein Ball. Jeder Biegungswechsel erfordert einen Lastwechsel auf das alte innere Hinterbein. Der Grund hierfür liegt darin, dass man das alte innere Hinterbein ein wenig länger am Boden festhält, damit das neue Hinterbein Zeit hat, das alte zu überholen und weiter unter den Körper zu treten.

Diese Kombination von Lastwechsel und Biegungswechsel ist ein integraler Bestandteil jedes Handwechsels, jedes einfachen Galoppwechsels und jedes fliegenden Galoppwechsels, sowie jedes Übergangs zwischen Schulterherein und Renvers, bzw. Konterschulterherein und Kruppeherein.

Das Üben dieser Lastwechsel und Biegungswechsel besitzt eine hervorragende gerade richtende und mobilisierende Wirkung auf das gesamte Pferd. Viele Pferde finden sie anfangs zwar schwierig, aber je besser sie sie beherrschen, desto runder werden sie und desto leichter wird es, sie jederzeit wie einen Ball in jede beliebige Richtung zu rollen.

Zusammenfassung

“Innerer Schenkel, äußerer Zügel” ist eine Abkürzung für eine relative komplexe Gruppe von Bewegungsmustern, die ein sehr geschmeidiges, ausbalanciertes, gerade gerichtetes und bewegliches Pferd zur Folge haben.

Aufgabe des inneren Schenkels ist es dabei, den Kreislauf der Hilfen in Gang zu bringen, indem er das innere Hinterbein sowohl näher an das äußere Hinterbein als auch näher an die Vorderbeine  heranbringt.

Das resultiert in einem Lastwechsel von der inneren Schulter auf das äußere Beinpaar, was wiederum zu einer Dehnung der Muskeln auf der Außenseite der Biegung des Pferdes führt.  Biegen und Dehnen der äußeren Muskeln erzeugt eine Verbindung mit dem äußeren Zügel, welcher dann eine Verbindung zum äußeren Hinterfuß herstellen kann. D.h. er kann durch halbe Paraden das äußere Hinterbein kurz in den Boden drücken, um mit Hilfe des Gewichts von Pferd und Reiterin seine Gelenke zu beugen.

Da die Hinterbeine wie Sprungfedern fungieren, erzeugt deren Beugung/Kompression zwischen Boden und Gewicht einen gleich großen und entgegengesetzten Impuls sich wieder zu strecken und zu schieben. Die Streckung der Gelenke des äußeren Hinterbeins und die Schubkraft, die dadurch erzeugt wird, kann von der Reiterin in eine eher vertikale Richtung (versammelte Gangmaße) oder in eine eher horizontale Richtung (mittlere und starke Gangmaße) gelenkt werden. Das geschickte Abwechseln zwischen Engagieren, Beugen und Loslassen des Hinterbeins erzeugt Kraft und Schwung.

Ich hoffe, dies hilft, das Geheimnis des Mantras vom “inneren Schenkel, äußeren Zügel” zu lüften und Ihnen die Möglichkeiten aufzuzeigen, die sich hinter diesem kurzen Slogan verbergen. Ich hoffe auch, dass Ihnen manche der biomechanischen Erklärungen konkrete Ideen geben, wie man eine Verbindung vom inneren Schenkel zum äußeren Zügel herstellt und wie man das Pferd “an den äußeren Zügel” bekommt, wie man die Biegung verbessern kann und wie man einen “Kreislauf der Hilfen” herstellt, da alle diese Dinge mit einander zusammenhängen.