Dressurlektionen als Punkte auf einem Kontinuum

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Unterschiedliche Interpretationen


Viele Dressurreiter sehen die Lektionen ausschließlich durch die Brille der Definitionen der FEI Regeln. Reitet jemand eine Lektion, wie beispielsweise ein Schulterherein, dann erfüllt es entweder die in den Regeln festgelegenen Anforderungen oder nicht. Anders gesagt, entweder es IST ein Schulterherein, oder es ist es NICHT. Dies ist mehr oder weniger die Sichtweise des Turnierrichters und ist vollkommen berechtigt auf Turnieren oder bei Schauprogrammen. In der Ausbildung betrachte ich das Ganze lieber etwas flexibler. Ich sehe Lektionen eher als Punkte auf einem Kontinuum, weil es unrealistisch ist, von einem Pferd oder einer Reiterin zu erwarten, dass sie gleich beim ersten Versuch ein perfektes Schulterherein oder eine perfekte Traversale ausführen können. Als Ausbilder und Lehrer müssen wir also für die Schüler eine Straße oder eine Treppe bauen, die sie von ihrem gegenwärtigen Standort zum fertigen Produkt führt. Das bedeutet, dass wir im Training und im Unterricht Prioritäten setzen und uns dem Endziel in vielen kleinen Lernschritten nähern müssen. Wenn wir gleich beim ersten Versuch Perfektion erwarten würden, wären bei Pferd und Reiterin Mißerfolg, Stress und Frustration vorprogrammiert.


Prioritäten setzen bedeutet, dass man bestimmte Mängel in der Ausführung vorübergehend ignoriert, da sie momentan weniger wichtig sind als gewisse andere Aspekte der Lektion.



Beispiel Nr. 1


Man kann sich beispielsweise ein Kontinuum vorstellen, bei dem das Schenkelweichen das eine Ende des Spektrums bildet, während Schulterherein, Konterschulterherein oder Kruppeherein am anderen Ende liegen.
Wenn man einem Pferd diese Seitengänge beibringen will, besteht der erste Lernschritt darin, dass ein Hinterbein vor das andere treten kann, anstatt sich genau parallel zu einander zu bewegen, wodurch eine Gewichtsverlagerung auf das nicht übertretende Hinterbein und eine erhöhte Geschmeidigkeit der Hinterhand bewirkt wird. Anfangs wird dies eher relativ rohe Formen annehmen, ohne viel Biegung. Das Pferd wird vielleicht sogar ein paar merkwürdige Bewegungen mit seinem Hals und Kopf machen, während es versucht, in dem veränderten Bewegungsablauf seine neue Balance zu finden. In diesem Stadium hilft es, wenn man hauptsächlich die Übergänge zwischen dem einfachen Hufschlag und dem seitlichen Übertreten übt, ohne längere Strecken im Übertreten zurückzulegen.


Lässt man die Kruppe von der Bande weg nach innen weichen, ist man anfangs vielleicht noch nicht in der Lage, das äußere Hinterbein besonders gut zu kontrollieren. Das bedeutet, dass das Pferd sich noch nicht richtig seitlich biegen kann. Aber es ist ein Anfang. Sobald das Pferd seine Kruppe nach innen und wieder zurück auf den Hufschlag bewegen kann, fängt man an, das äußere Hinterbein mehr einzurahmen, sodass es nicht mehr seitlich ausweicht, sondern mehr unter den Körper tritt. Je mehr es gelingt, das äußere Hinterbein unter dem Körper zu behalten, desto mehr wird sich eine gleichmäßige Seitenbiegung im Pferdekörper entwickeln. Das ursprüngliche Schenkelweichen mit der Nase zur Wand entwickelt sich damit allmählich zum Konterschulterherein. Während dieses Prozesses wird es Augenblicke geben, im denen man das äußere Hinterbein besser kontrollieren kann, sodass sich die Lektion auf dem Kontinuum näher am Konterschulterherein befindet. Und es wird Momente geben, in denen man das äußere Hinterbein verliert, weil es nach hinten oder zur Seite ausweicht, sodass die Lektion näher am Schenkelweichen Ende des Kontinuums ist. Oder der Hals verbiegt sich und die Hinterbeine treten gar nicht über. So geht es halt manchmal. Fehler passieren uns allen.


Wenn man an den meisten Tagen ein recht ordentliches Konterschulterherein hinbekommt, kann man anfangen, das äußere Hinterbein mehr vorwärts unter den Schwerpunkt zu treiben, bis es so weit untertritt, dass das Pferdebecken seine Position wechselt, indem es die alte äußere Hüfte weiter nach vorne bringt als die innere. Dies erzeugt einen Biegungswechsel, wodurch aus dem Konterschulterherein ein Kruppeherein (Travers) entsteht.


Dasselbe Prinzip gilt auch, wenn man auf dem 2. Hufschlag oder auf der Viertellinie reitet und die Hinterhand ein wenig nach außen weichen lässt. Je mehr Kontrolle man über das äußere Hinterbein gewinnt, desto besser wird man die Hinterhand auf der Linie halten und die Schultern nach innen bewegen können, sodass allmählich ein Schulterherein entsteht. Treibt man im Schulterherein das äußere Hinterbein mehr unter den Körper, entsteht nach und nach eine Renvers Stellung.


Da das Pferd sich während der Ausbildung sehr lange auf diesem Kontinuum befindet, pflegte einer unserer Lehrer zu sagen: “Wir wollen ihm noch keinen Namen geben. Dann sind wir nicht so sehr an die Details von Abstellung, Biegung, usw. gebunden.”



Beispiel Nr. 2


Ein weiteres Beispiel für das Kontinuum ist das Schenkelweichen/Schulterherein auf dem Zirkel und die Vorhandwendung in der Bewegung. Viele Pferde finden die Vorhandwendung in der Bewegung anfangs zu schwierig, aber sie können mit ihrer Hinterhand ein wenig nach außen weichen. Man kann damit anfangen, die Kruppe nur eine Hufbreite nach außen weichen zu lassen. Das ist so leicht, dass es fast jedes Pferd schafft. Je steiler der Winkel der Abstellung wird, desto schwieriger wird es für das Pferd, da es eine größere Beweglichkeit der Hinterhand und eine größere Unterstützung durch das äußere Hinterbein erfordert.

Steigert man die Abstellung immer mehr, beschreiben die Hinterbeine irgendwann einen Kreisbogen um die Vorderbeine.


Das Konzept des Kontinuums führt auch zur Idee der “homöopathischen Dosierungen”. Man braucht nämlich nicht unbedingt ein fertiges Schulterherein oder Kruppeherein auf 3 oder 4 Hufschlaglinien zu reiten, um in den Genuß des gymnastischen Nutzens dieser Lektionen zu kommen. Manchmal genügt es schon, die Vorderbeine oder Hinterbeine nur eine Hufbreite zur Seite zu bewegen, oder die Lektion sogar nur anzudeuten, sodass Pferd und Reiterin an sie denken, ohne dass sie von außen sichtbar wird. Und dennoch kann man die gymnastische Wirkung sehen und fühlen. Diese homöopathischen Dosierungen verbessern oft die Geraderichtung und die Biegung des Pferdes, und sie verbessern das Körpergefühl und die Koordination der Hilfengebung der Reiterin.



Beispiel Nr. 3


Ein weiteres Beispiel dieser Prinzipien ist ein Kontinuum, das mit dem Kruppeherein auf dem Zirkel beginnt und in der Pirouette mündet. Man kann zu Anfang einen großen Zirkel reiten und die Hinterhand eine Hufbreite nach innen weichen lassen. Das ist für die meisten Pferde relativ leicht. Verkleinert man den Zirkel in der Kruppeherein Stellung, muss das innere Hinterbein einen immer größeren Lastanteil stützen, bis aus dem Zirkel oder der Volte im Kruppeherein eine Passade und schließlich eine Pirouette wird.


Beim Üben dieser Lektionen, wird man spüren, wie sich ein Widerstand im inneren Hinterbein aufbaut, wenn man sich der Grenze seiner Geschmeidigkeit und Kraft nähert. Das ist dann der Punkt, an dem man die Anforderungen wieder verringern oder die Lektion beenden sollte, um später zu ihr zurückzukommen. Dadurch steigern sich die Kraft, die Geschmeidigkeit und das Balanciervermögen des Pferdes allmählich.


Zusammenfassung


Sie könnten in der nächsten Trainingseinheit versuchen, das Konzept des Kontinuums anzuwenden, das zwischen den ersten Anfängen einer Lektion und der perfekten Ausführung existiert. Verwenden Sie es als eine Art Straßenkarte, wenn Sie Ihrem Pferd eine neue Lektion beibringen, oder wenn Sie eine Lektion verbessern wollen, die es schon kennt.


Stellen Sie sich die Enden des Kontinuums als Yin und Yang vor, die beide jeweils eine kleine Spur des anderen enthalten. Eine Traversale enthält immer noch ein Spurenelement des Schenkelweichens, und das Schenkelweichen ist wie ein Samenkorn, aus dem eine Traversale entstehen kann.


Fixieren Sie sich nicht zu sehr auf bestimmte Oberflächenelemente einer Lektion, sondern arbeiten Sie mit den gymnastischen Zutaten, die darin enthalten sind, wie der Lastwechsel von einer Seite zur anderen, Übertreten mit der Hinterhand, Wenden der Schultern, Biegen, Schieben oder Tragen der Hinterhand.
Lassen Sie sich nicht aus der Ruhe bringen, wenn ein Fehler passiert und sich die Lektion dem unteren Ende des Kontinuums nähert. Beobachten Sie stattdessen, welche Zutat Sie verloren haben und versuchen Sie, diese wieder herzustellen, um sich wieder in Richtung auf das obere Ende des Kontinuums zu bewegen.
Versuchen Sie auch, das Konzept der homöopathischen Dosierungen zu erkunden, um Ihr Koordinationsvermögen zu schulen.