Verbindung(en) und Durchlässigkeit

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Einleitung


Ein Mitglied unserer Artistic Dressage Community fragte Shana und mich: “Könntet Ihr versuchen zu beschreiben, wie Ihr ‘wisst’, dass Ihr Euer Pferd von hinten nach vorne verbunden und durchlässig habt?”
Das ist ein recht umfangreiches Thema, zu dem man ein ganzes Buch schreiben könnte, weil es mehrere Aspekte gibt, die man detailliert besprechen kann.


Es gibt viele verschiedene Verbindungen, die hergestellt werden müssen: zwischen den Reiterhilfen und dem Pferdekörper, zwischen den Pferdebeinen und dem Boden und zwischen den verschiedenen Teilen des Pferdekörpers untereinander. Mit jeder neuen Verbindung kann die Energie der Hinterbeine freier durch den Körper fließen, womit sich die Durchlässigkeit für die Hilfen verbessert. Jedes Mal, wenn eine Verbindung verloren geht, verringert sich die Durchlässigkeit und sowohl die Bewegungsimpulse der Hinterbeine als auch die Reiterhilfen bleiben stecken.


Ein Netzwerk von Leiterbahnen


Ich stelle mir Pferd und Reiter gerne als ein System von Rohren oder Schläuchen vor, durch die Wasser fließt. Man kann das Wasser von jeder beliebigen Stelle des Röhrensystems an jede andere fließen lassen. Ist ein Rohr verstopft, staut sich das Wasser an dieser Stelle und kann nicht mehr durch diesen Teil des Systems fließen. Weist ein Rohr ein Leck auf, entweicht das Wasser durch dieses aus dem System. Sowohl eine Verstopfung als auch ein Leck haben zur Folge, dass bestimmte Körperteile von der Energie der Hinterbeine und den Reiterhilfen nicht mehr erreicht werden können.


Ein weiteres gutes Bild ist das eines Straßensystems. Wenn eine der Straßen durch einen Erdrutsch blockiert wird, kommt der Verkehr zum Erliegen und die Fahrer müssen entweder warten, bis die Straße wieder frei geräumt ist oder sie müssen eine alternative Route finden, die zum Ziel führt. Entsteht durch Unterspülung der Straße ein tiefes Loch, kann ein Auto hinein fallen und darin verschwinden.


In ähnlicher Weise können wir die Bewegungsenergie bzw. die Bewegungsimpulse der Hinterbeine an der Wirbelsäule des Pferdes entlang zum Gebiss fließen lassen und von dort durch den Sitz und die Zügel wieder an die Hinterbeine zurück recyclen, sodass die Energie einen geschlossenen Kreislauf bildet, ähnlich wie bei einem Stromkreislauf.


Durch diese Leiterbahnen können die Reiterhilfen die Energie von jedem beliebigen Körperteil in jeden anderen schicken. Die Kreuz-, Gewichts-, Schenkel- und Zügelhilfen nehmen ihren Ursprung in der Wirbelsäule und dem Becken der Reiterin und fließen durch dieselben Rohre oder Schläuche zur Wirbelsäule und den Beinen des Pferdes. In diesem Sinne sind die Schenkel- und Zügelhilfen der Reiterin Fortsetzungen der Sitzhilfen.


Ist das Pferd Röhrensystem des Pferdes intakt, ohne Verstopfungen und Lecks, kann man jeden Teil des Pferdekörpers mit den Hilfen erreichen. Man kann das Gewicht durch jedes beliebige Bein in den Boden fließen lassen und man kann die Energie der Hinterbeine überall hin kanalisieren. Der gesamte Pferdekörper ist offen und zugänglich.

Sobald ein Muskel sich verspannt, verstopft das "Rohr" und die Energie kann nicht mehr durch diesen Körperteil fließen. Biegt sich das Pferd dagegen in einem Körperteil, der sich gerade nicht biegen oder nicht nachgeben soll, entspricht dies einem Loch im Rohr oder Schlauch, durch das das Wasser aus dem System entweicht. Die Verbindung zwischen der Energiequelle (Hinterbeine) und dem Rest des Körpers ist unterbrochen. Verstopfungen und Lecks treten sehr oft gemeinsam auf, da Blockaden Lecks erzeugen können: Ist ein Gelenk durch steife Muskeln blockiert, wird das Pferd sich an einer anderen Stelle biegen, so wie Wasser um eine Blockade in einem Fluß herum fließt und dabei eventuell über das Ufer tritt. Als Faustregel kann man sagen, dass Pferde mit dem mobilsten, am leichtesten zugänglichen Körperteil zuerst nachgeben. Sie beschützen steife Muskeln und blockierte Gelenke, indem sie mit einem Gelenk oberhalb oder unterhalb der Blockade nachgeben. Die Reiterhilfen und die Bewegungsenergie werden dann in den falschen Kanal gelenkt und können nicht ihr beabsichtigtes Ziel erreichen. Mit anderen Worten, gewisse Körperteil sind für die Hilfen nicht erreichbar, so lange es Muskelblockaden oder hypermobile Gelenke gibt. Die Reiterin kann sie weder fühlen noch beeinflussen.


Es gibt mehrere mögliche Ursachen, die Muskelverspannungen auslösen, wie Balancemangel oder Schiefe bei der Reiterin oder beim Pferd, Gebäudemängel oder Schmerzen von Verletzungen oder schlecht passender Ausrüstung, etc.


Balance als Voraussetzung für Verbindungen und Durchlässigkeit


Eine der häufigsten Ursachen ist ein Mangel an Balance, wobei die Schiefe eine Unterkategorie des Balancemangels darstellt. Wenn sich ein Pferd oder Mensch im Gleichgewicht befindet, benützen sie ihre an der Wirbelsäule angelagerten Haltungsmuskeln zur Aufrechterhaltung der Balance und der Haltung, sodass ihre Bewegungsmuskeln ausschließlich zum Erzeugen von Bewegung eingesetzt werden. Im perfekten Gleichgewicht können sich Pferd und Reiterin mühelos leicht und fließend bewegen. Sobald die Balance jedoch anfängt verloren zu gehen, sind die Haltungsmuskeln nicht mehr in der Lage, das Gleichgewicht allein aufrecht zu erhalten. In diesem Fall kommen die Bewegungsmuskeln der Gliedmaßen zu Hilfe. Leider ist das Stabilisieren des Körpers eine ganz andere Arbeit als das Bewegen des Körpers. Eine Arbeit, für die sie nicht wirklich geschaffen sind. Wenn Bewegungsmuskeln versuchen Balance und Stabilität herzustellen, fangen sie an sich zu verspannen, was mit ihrer eigentlichen Arbeit, nämlich den Körper zu bewegen, nicht vereinbar ist.


An diesem Punkt ist die Bewegung nicht länger mühelos und fließend, sondern schwer, ermüdend und anstrengend. Sie verursacht auch eine unnötige Belastung der Sehnen und Gelenke. Mit jedem Muskel, der sich verspannt und nicht mehr seinem natürlichen Zweck entsprechend arbeitet, verstopft eine Röhre und die Verbindung zu einem bestimmten Körperteil geht verloren. In den schwersten Fällen scheint das Pferd sich in einen Backstein zu verwandeln, der für jede Hilfe vollkommen undurchlässig ist.


Verliert das Pferd oder der Mensch seine Balance, sind sie in Gefahr zu stürzen, wodurch eine Angstreaktion ausgelöst wird. Die Angst vor dem Fallen ist eine der ältesten Ängste bei Pferden wie bei Menschen. Deshalb versuchen sie Stürze um jeden Preis zu verhindern, auch wenn sie dabei alle Muskeln an- und verspannen müssen. Unausbalancierte Pferde und Reiter sind oft ängstlich und nervös. In dem Maße, wie sich ihre Balance verbessert, entspannen sie sich meist auch psychisch und emotionell.


Um das Pferd von hinten nach vorne, von vorne nach hinten und von einer Seite zur anderen durchlässig zu machen, müssen wir also bei der Herstellung der Balance anfangen. Und dies beginnt wiederum mit dem Reiten korrekter Hufschlagfiguren in einem steten Tempo, das weder zu schnell noch zu langsam ist. Ein gleichmäßiges, metronomartiges Tempo bildet die Voraussetzung für die longitudinale Balance. Daher wurden Takt und Tempo auch als erstes Element der deutschen Ausbildungsskala gewählt. Die korrekte Ausrichtung der Pferdehufe entlang der gerittenen Hufschlagfigur hilft dem Pferd, seine seitliche Balance zu finden. Sie ist ein zentraler Aspekt der Geraderichtung. Auf einfachem Hufschlag sollte sich das linke Beinpaar auf der linken Seite der gewählten Linie befinden, das rechte Beinpaar auf der rechten Seite und die Wirbelsäule des Pferdes sollte einen Ausschnitt der gerittenen Linie bilden.


Befindet sich das Pferd im Gleichgewicht, können sich alle Muskeln darauf beschränken, die Arbeit zu verrichten, die ihnen von der Natur zugedacht ist. Sie arbeiten zusammen anstatt gegen einander. Daher wird keine Energie vergeudet und die Bewegung fühlt sich mühelos an.


Dadurch wird ein großer Teil der unnötigen muskulären Verspannungen eliminiert werden. Vielen Pferden fällt es anfangs schwer, ihr longitudinal und seitliches Gleichgewicht zu finden, da sie ein schlechtes Körpergefühl besitzen und nicht genau wissen, wie viele Beine sie haben, wo diese sind, oder welches Bein die Hauptlast gerade stützen muss, um nicht umzufallen. Deshalb ist es sehr hilfreich, bereits früh Übungen ins Programm aufzunehmen, die die Körperwahrnehmung des Pferdes verbessern.


Pferde mit schwierigem Exterieur oder problematischer Ausbildungsvorgeschichte werden in der Regel noch alte, gewohnheitsmäßige Muskelblockaden in bestimmen Körperregionen aufweisen, auch wenn sie im Grunde schon recht gut ausbalanciert sind. Diese können durch gymnastische Übungen beseitigt werden, die den Körperteil gezielt ansprechen, in dem die Verspannung steckt.



Der Anteil der Reiterin


Alles, was ich für das Pferd beschrieben habe, gilt auch für die Reiterin. Solange die Haltungsmuskeln die Reiterin auch im Trab und Galopp aufrecht und ausbalanciert halten, befindet sie sich in einem “Flow” Zustand, in dem sich Reiten mühelos und leicht anfühlt. Arm-, Hand-, und Beinmuskeln können sich entspannen und mit dem Pferd kommunizieren. Das Aussitzen im Trab und Galopp fühlt sich leicht an. Verliert die Reiterin dagegen ihre Ausrichtung und ihre Balance, weil die Haltungsmuskeln ihre Arbeit nicht richtig machen, wird sie der Bewegung des Pferderückens nicht mehr folgen können und ihre Arm- und Beinmuskeln werden anfangen sich zu verspannen und sich am Pferd und an den Zügel festzuhalten um nicht herunter zu fallen. Diese verspannten Muskeln können dann das Pferd weder fühlen noch mit ihm kommunizieren. Sie blockieren darüber hinaus die Hüft-, Knie und Knöchelgelenke der Reiterin, sowie ihre Handgelenke, Ellbogen und Schultern. Sie kann den Trab und Galopp dann nicht mehr sitzen und stört die Balance und die Bewegungsfreiheit des Pferdes. Verliert die Reiterin ihr Gleichgewicht, wird sie das Gleichgewicht des Pferdes beeinträchtigen. Ist sie schief, wird sie das Pferd entsprechend schief machen. Verspannt die Reiterin bestimmte Muskeln in ihrem Körper, wird das Pferd die entsprechenden Muskeln in seinem Körper verspannen, die mit jenen in direkter Verbindung stehen.


Zusammenfassung


Aus den obigen Erklärungen kann man mehrere Schlüsselzutaten ableiten, die notwendig sind, um ein durchlässiges Pferd auszubilden, bei dem alle Körperteile mit einander und mit den Hilfen verbunden sind:


1) Korrekte Hufschlagfiguren in einem gleichmäßigen, passenden Tempo
2) Ausrichten des Pferdes auf die gerittene Linie
3) Geschmeidiger Gleichgewichtssitz der Reiterin
4) Aufspüren und Beseitigen von Muskelblockaden durch gymnastische Übungen
5) Schließen von Energielecks
6) Testen und Herstellen von Verbindungen durch gezielte Übungen



Als allgemeine Faustregel kann man sagen, dass die ersten drei dieser Elemente mehr oder weniger gleichzeitig behandelt werden müssen. Die letzten drei Elemente können bearbeitet werden, sobald sich das Pferd in einem gleichmäßigen Tempo auf korrekten Hufschlagfiguren bewegt. Allerdings muss man die spezifische Reihenfolge manchmal flexibel handhaben, um den momentanen Bedürfnissen des Pferdes gerecht zu werden.

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