Hilfen als Grenzen

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Einleitung


Hilfen werden für eine Vielzahl von Zwecken eingesetzt. Die Reiterin kann durch die Hilfen dem Pferd ihre Absichten mitteilen. Sie sind auch Sensoren, die die Muskelanspannung und die Stimmung des Pferdes erfühlen. Wir können sie als Sonden verwenden, die an den Knochen und Muskeln des Pferdes entlang spüren, um steife, unbewegliche Muskeln und Gelenke zu finden. Und sie können eingesetzt werden, um das Pferd einzurahmen und Grenzen zu ziehen, innerhalb deren sich das Pferd bewegen soll.


Die meisten Diskussionen von Hilfen konzentrieren sich mehr oder weniger auf ihre Rolle bei der Befehlsübermittlung ans Pferd. Die anderen Aspekte werden kaum angesprochen, obwohl wie mindestens genauso wichtig sind. Heute möchte ich einen Blick auf die Vorstellung werfen, dass die Beine der Reiterin und die Zügel verwendet werden können, um einen Kanal zu bilden, in dem sich das Pferd bewegt. Die Idee ist natürlich nicht neu. Antoine de Coux (2012, S. 38) erwähnt sie in seiner Sammlung von Notizen, die er sich als Zuschauer bei Nuño Oliveiras Lehrgängen machte:

“Der Kanal oder Korridor der Hilfen.
Auf der rechten Seite: rechte Hand und rechter Schenkel.
Auf der linken Seite: linke Hand und linker Schenkel.
Um das Pferd zum Beispiel in der Volte zu biegen: innerer Schenkel und innerer Zügel biegen das Pferd, äußerer Schenkel und äußere Hand “wickeln sich herum” und kanalisieren das Pferd.”


Und noch einmal auf Seite 41: “Ihre Schenkel müssen wie zwei Mauern sein, dann arbeitet Ihr Pferd in einem Korridor (“Hilfenkanal”).”


Anfang des letzten Jahrhunderts erwähnte Adolph Schmidt die Vorstellung eines Hilfenkanals oder -korridors (1909, S. 138): “Denken wir uns also das Pferd zwischen zwei parallel laufenden Mauern gestellt, die seine Hüften berühren, so müssen der Kopf und die Wirbelreihe genau in der Mitte zwischen diesen beiden Mauern getragen werden.” Und mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor verwendete Louis Seeger (1844, S. 19) das Bild des Korridors, um die Geraderichtung des Pferdes zu erklären: “Das Pferd ist dann grade gerichtet, wenn die Abstände von den Schultern bis zu den von den Hüften aus gezogenen Parallelen gleich sind. Denke man sich z.B. das Pferd zwischen zwei parallelen Mauern so stehend, dass diese die beiden Hüften berühren, so müssen die Entfernungen von den Schultern bis zu der Mauer derselben Seite gleich sein; die Wirbelsäule bildet dann genau die Mittellinie zwischen beiden Parallelen.”


Schiff im Kanal


Ich stelle mir das Pferd gerne als Schiff vor, das sich in einem engen Kanal bewegt. Die Mauern des Kanals werden von den Zügeln und den Beinen der Reiterin gebildet. Die Unterschenkel rahmen die Hinterbeine ein, die Oberschenkel rahmen den Brustkorb ein und die Knie und Zügel rahmen die Pferdeschultern ein. Wird das Pferd schief und stößt an einer Wand dieses Kanals an, korrigiert es sich beinahe selbst. Weicht die Schulter seitlich aus, nimmt die Spannung des Zügels dieser Seite zu wie bei einem Gummiband und das Pferd richtet sich beinahe von selbst wieder gerade. Ansonsten kann die Reiterin den Impuls auch zurück geben, indem sie der Pferdeschulter mit ihrem Knie und Zügel, an die das Pferd angestoßen ist, einen leichten Schubs gibt. Sobald das Pferd sich wieder gerade richtet, wird ein automatisches Nachgeben ausgelöst.


Weicht das Pferd mit der Kruppe seitlich aus, wird es am Reiterschenkel auf dieser Seite anstoßen. Die Reiterin braucht nur diesen Schubs mit ihrer Wade erwidern, um die Kruppe in die Mitte zurückzubringen.
Umgibt man das Pferd auf diese Weise mit den Beinen und Zügeln, ist man in der Lage, die Ausrichtung des Pferdes genau zu fühlen und jede Abweichung von der gerittenen Linie im Ansatz zu korrigieren. Die Verbindung beider Beine und Zügel mit dem Pferd ist eine Art Frühwarnsystem, das die Reiterin von jeder sich anbahnenden Schiefe sofort informiert.


So lange sich das Pferd korrekt ausgerichtet auf der gewählten Hufschlagfigur bewegt, in dem Tempo, mit der Trittlänge und dem Energieniveau, das die Reiterin ihm angewiesen hat, können die Hilfen passiv bleiben und einfach zuhören, beobachten. Will die Reiterin einen dieser Parameter verändern oder wird das Pferd schief, schneller oder langsamer, werden die Hilfen aktiv und stellen die verlorengegangene Geraderichtung, bzw. Tempo, Trittlänge und Energieniveau wieder her.


Dies erfordert von Seiten der Reiterin eine gleichmäßige, stete, leichte Verbindung mit den Schenkeln und Zügeln. Die Muskeln, die das Pferd berühren, sollen weich und entspannt sein, während der Oberkörper stabil und gut ausbalanciert sein muss.


Gibt es keine Verbindung zwischen den Reiterschenkeln und dem Brustkorb des Pferdes oder zwischen den Zügeln und dem Pferdemaul, können Pferd und Reiterin einander nicht fühlen.


Sind andererseits die Reiterschenkel und -hände steif und hart, kann die Reiterin ebensowenig fühlen, weil verspannte, harte Muskeln nichts durchlassen. Verspannt das Pferd seine Brustkorbmuskulatur, kann es die Schenkelhilfen nicht gut fühlen. Verspannt es sich im Genick oder im Hals, wird es feine Zügelhilfen nicht spüren können.


Lücken in den Reiterhilfen laden das Pferd dazu ein, wie Wasser durch ein Leck “auszulaufen”. D.h. wenn ein Zügel zu lang ist oder die Hände zu breit getragen werden, können die Schultern durch diese Öffnung seitlich ausweichen.


Hat ein Reiterschenkel keinen Kontakt mit dem Brustkorb des Pferdes, kann das Hinterbein seitlich in diese Richtung ausweichen.


Ich habe auch oft beobachtet, dass die Pferdeschulter bei einem abgespreizten Ellbogen durch dieses Öffnung entweicht. Der Grund hierfür liegt wahrscheinlich darin, dass ein abstehender Ellbogen ausgelöst wird von einem Einknicken in der Hüfte oder einem runden Rücken, wodurch es schwierig wird, das Pferd korrekt auf der gerittenen Linie auszurichten.


Obwohl wir alle vier Ecken des Pferdekörpers im Auge behalten und einrahmen sollten, müssen wir besonders auf die Schulter der sogenannten steifen (von Natur aus konvexen) Seite und das Hinterbein der sogenannten hohlen (von Natur aus konkaven) Seite achten, da diese beiden Beine am meisten dazu neigen von der gerittenen Linie abzuweichen.

Vordertür, Hintertür


Zusätzlich zu den seitlichen Grenzen können die Reiterhilfen auch eine Grenze hinter dem Pferd und vor dem Pferd ziehen. Ein senkrechter Oberkörper mit engagierten Rückenmuskeln hält die “Hintertür” geschlossen. Fällt man dagegen nach vorne und spannt die Rückenmuskulatur zu wenig an, öffnet sich eventuell die Hintertür. Dies ist der Grund dafür, dass manche Pferde hinter die Hilfen kommen und umdrehen oder rückwärts laufen, wenn die Reiterschultern eine unsichtbare Linie nach vorne überqueren und die Rückenmuskelspannung unter einen bestimmten Wert absinkt.


Sind die Ellbogen der Reiterin nicht ausreichend mit dem Becken bzw. der Taille verbunden, drücken manche Pferde gegen das Gebiss, um die “Vordertür” ganz aufzustoßen und der Reiterin die Zügel zu stehlen. Wenn sie damit Erfolg haben, fallen sie auf die Vorhand und die Hinterbeine müssen das Reitergewicht nicht mehr tragen.
Gibt es dagegen eine sichere Verbindung zwischen den Ellbogen der Reiterin und ihrem Becken bzw. ihrer Taille, kann das Pferd die Zügel nicht stehlen. Drückt oder stößt das Pferd aufs Gebiss, wird dies sofort durch die Zügel und die Unterarme der Reiterin zu ihren Hüften und von dort zu den Hinterbeinen des Pferdes weiter geleitet.
In den Momenten, in denen das Pferd auf das Gebiss drückt oder stößt, befindet sich immer ein Hinterbein auf dem Boden hinter der Senkrechten. Gewöhnlich ist es immer dasselbe Bein. Der Ruck, den die Reiterin in den Zügeln spürt, beginnt mit diesem schiebenden Hinterbein. Ist der Sitz gut mit den Zügeln verbunden, wird der Stoß des Pferdes auf das Gebiss in eine halbe Parade umgewandelt, die genau dieses Hinterbein anspricht.


Die Verbindung der Ellbogen der Reiterin mit dem Becken bzw. der Taille erzeugt eine größere Stabilität des Oberkörpers. Die Körpermasse der Reiterin verankert und unterstützt die Anlehnung und die Zügelhilfen und sie hilft, eine direkte Verbindung vom Hinterfuß zum Gebiss herzustellen. Diese Verbindung verhindert oft, dass das Hinterbein überhaupt hinten ausbleibt. Fehlt sie dagegen, fallen die Hinterbeine oft zurück und das Pferd fängt an, mit dem Hals und Kopf gegen die Zügel zu stoßen und mit dem Hinterbein und der Kruppe gegen den Sitz.