Verlieren Sie nicht das Gesamtbild aus den Augen

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Der Blog dieser Woche enthält einen weiteren praktischen Tipp, der das Resultat von Fehlern ist, die ich in der Vergangenheit gemacht habe. Jedesmal, wenn etwas schief geht, hat man die Gelegenheit, genauer zu untersuchen was passiert, wie es passiert und warum es passiert. Es ist eine tolle Chance, etwas Neues zu lernen und tiefere Einblicke in die biomechanischen und psychologischen Kausalitäten des Reitens zu gewinnen. Fehler sind also in vieler Hinsicht Geschenke, weil sie uns vorwärts schubsen können und uns helfen ein tieferes Verständnis und größere Kompetenz zu erwerben.


Der Tipp dieser Woche gehört zu den Dingen, die im Reitunterricht meistens nicht erwähnt werden und die man auch nicht in Büchern findet, obwohl sie sehr wichtig sind und auch völlig logisch erscheinen, sobald man sie entdeckt hat.


Er hat etwas damit zu tun, worauf wir beim Reiten unsere Aufmerksamkeit lenken. Vor vielen Jahren hatte ich ein sehr aufschlussreiches Erlebnis, das mich auf diesen Gedanken brachte. Eines Tages hatte ich beim Reiten das Gefühl, dass ich mit den Zügeln etwas nachgeben müsste, damit das Pferd nich anfängt sich zu verspannen. Als ich jedoch mit den Zügeln nachgab, fiel das Pferd auseinander. Ich konnte nicht verstehen, warum das so war, weil ich doch ganz brav das Richtige getan hatte. Also stellte ich das Pferd wieder an die Hilfen und natürlich wiederhote sich derselbe Vorgang. Nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen mit den Zügeln nachzugeben fing ich an auf den Rest meines Körpers zu achten und es fiel mir auf, dass ich nicht nur meine Arm- und Handmuskeln entspannte, sondern zusätzlich auch meine Rumpfmuskeln, sodass ich das Pferd nicht mehr am Kreuz hatte. Sobald ich diesen Zusammenhang entdeckt hatte, konzentrierte ich mich auf meine Rumpfmuskeln und versuchte sie engagiert zu lassen, während ich mit den Zügeln nachgab. Von dem Augenblick an war mein Problem gelöst. Die Pferde blieben an den Hilfen, während ich ich mit den Zügeln nachgab.


Das hinter dieser Anekdote stehende Prinzip ist folgendes: Während man sich auf einen Teil des Körpers konzentriert, können andere Körperteile Dinge tun, die sie nicht tun sollen, weil man ihnen gerade keine Aufmerksamkeit schenkt. Wenn man einen Muskel gezielt entspannt, lässt der Körper vielleicht zusätzlich noch andere Muskeln los, die eigentlich angespannt bleiben sollten. Wenn man umgekehrt bewusst einen bestimmten Muskel anspannt, dann spannt der Körper vielleicht ohne dass man es bemerkt zusätzlich noch andere Muskeln an, die eigentlich entspannt bleiben sollten. Es scheint die natürliche Tendenz unseres Körpers zu sein, entweder alle Muskeln gemeinsam anzuspannen oder loszulassen. Zumindest fühlte sich das für mich so an, als ich Anfänger war. Es war alles oder nichts. Ich konnte nicht zwischen den einzelnen Muskelgruppen differenzieren oder einzelne Muskeln isolieren, um den einen Muskeln anzuspannen ohne seine Muskeln mit zu benützen.


Sobald ich dieses Prinzip einmal beobachtet hatte, fing ich an, viele weitere Beispiele dafür in meiner eigenen Reiterei und bei meinen Schülern zu entdecken. Wenn Sie beispielsweise Ihre Rumpfmuskeln anspannen, beobachten Sie einmal zusätzlich Ihre Gesäßmuskeln und Ihre Hüftbeuger, da Ihr Körper diese gerne mit anspannt, wenn Sie Ihre Rumpfmuskeln anspannen.


Wenn Sie mit der Wade treiben, kontrollieren Sie, ob Sie mit Ihrer Hand gleichzeitig den Zügel fester anfassen.
Wenn Sie Ihren Oberschenkel im Hüftgelenk eindrehen, kontrollieren Sie ob Sie gleichzeitig Ihre Ellbogen abspreizen. Das ist ein sehr häufiges Problem.


Beobachten Sie sich einmal genau und lassen Sie mich wissen, ob Sie noch andere Beispiele dieses Prinzips bei sich oder anderen finden. 
Wenn Sie diese ungewollten Korrelationen feststellen, können Sie sie in zwei Arbeitsschritten abstellen. Zuerst spannen Sie die Muskeln an, die angespannt werden sollen. Dann lassen Sie diejenigen Muskeln wieder los, die Ihr Körper zusätzlich ungewollt mit angespannt hat, ohne die Anspannung in den anderen zu verlieren.


Wenn Sie umgekehrt bestimmte Muskeln loslassen wollen, während andere angespannt bleiben sollen, erhöhen Sie zuerst die Spannung in diesen und lassen dann die anderen separat los.


Auf diese Weise habe ich nach und nach gelernt, einzelne Muskeln isoliert anzusprechen, ohne gleichzeitig andere Muskeln mit zu beeinflussen.


Dasselbe Prinzip existiert auch beim Pferd. Zum Beispiel konzentrieren sich die meisten Reiter in den Seitengängen vorwiegend auf das Hinterbein, das übertreten soll und treiben nur mit dem gleichseitigen Schenkel. Dabei entgeht ihnen aber eventuell, wenn das Hinterbein der anderen Seite nicht mehr untertritt, sondern seitlich ausweicht. Im Schulterherein ist es das äußere Hinterbein, das gerne nach aussen ausweicht, sodass das Pferd seine Biegung verliert und auf die innere Schulter fällt. Im Kruppeherein und in der Traversale ist es das innere Hinterbein, das nach innen ausweicht oder hinten zurück bleibt, was ebenfalls dazu führt, dass das Pferd auf die Vorhand fällt, die Biegung verliert und nicht mehr richtig übertritt. Um diese Fehler zu vermeiden, müssen wir uns nicht nur auf das kreuzende Hinterbein konzentrieren, sondern auch auf das andere, das den Körper stützen und sich unter der Last beugen muss, damit das andere übertreten kann.
Versuchen Sie einmal Ihren äußeren Schenkel im Schulterherein oder den inneren Schenkel im Kruppeherein und der Traversale einzusetzen und beobachten Sie, wie das Pferd darauf reagiert.


Eine weitere Anwendung dieses Prinzips betrifft die unabhängige Justierbarkeit der Hüften und Schultern des Pferdes. Das kann man am besten beobachten, wenn man beim Üben von Seitengängen eine Reihe von Markierungen entlang der Viertellinie, Mittellinie oder einer Diagonalen aufstellt. In den Seitengängen sollte ein Ende des Pferdekörpers an der gedachten Hufschlaglinie entlang gehen, während sich das andere Ende davon seitlich versetzt bewegt und die gleiche Distanz wahren sollte.


Im Schulterherein bewegt sich das äußere Hinterbein auf der Hufschlaglinie, während die Vorderbeine nach innen gerückt sind. Wenn das Pferd seine Hinterbeine etwas nach außen bewegt, kann es sein äußeres Hinterbein entlasten und sich hauptsächlich mit seiner inneren Schulter stützen, wodurch die Lektion stark an gymnastischem Wert verliert.


Alternativ dazu wird das Pferd vielleicht die Hufschlaglinie nach innen verlassen, weil seine Hinterhand gemeinsam mit den Schultern nach innen gewichen sind. Dadurch wird das Gewicht vom äußeren Hinterbein auf das innere Vorderbein übertragen.


Wenn Sie sich im Schulterherein zu sehr auf das innere Hinterbein konzentrieren, werden Sie nicht bemerken, dass eines der anderen drei Beine nicht mehr dort ist, wo es hingehört.


Wenn Sie die Hinterhand im Kruppeherein nach innen weichen lassen, sollte das äußere Vorderbein auf der Hufschlaglinie bleiben. Allerdings kommen unter Umständen die Pferdeschultern ebenfalls herein, wodurch die Hauptlast auf das innere Vorderbein anstatt das innere Hinterbein fallen und das Pferd die beabsichtigte Hufschlaglinie verlassen würde.


Alternativ dazu können im Kruppeherein die Schultern auch nach außen ausweichen, wenn es dort keine feste Begrenzung gibt. Dadurch würde die Hauptlast auf das äußere Vorderbein fallen.


Wenn Sie sich ausschliesslich auf das äußere Hinterbein konzentrieren, bemerken Sie es vielleicht nicht, wenn das Pferd die beabsichtigte Hufschlaglinie mit seinen Vorderbeinen verlässt.


Dasselbe trifft auch auf die Traversale zu. In Richtung hohle Seite wird die Traversale oft steiler als beabsichtigt, weil die Vorderbeine nach innen von der Linie abweichen.


Im Konterschulterherein und Renvers gibt es ganz ähnliche mögliche Fehler wie im Schulterherein und im Kruppeherein.


Es gibt noch viele andere Beispiele dieses Prinzips. Wenn Sie die Tritte verlängern, beobachten Sie das Tempo. Viele Pferde werden schnellere statt längere Tritte machen.


Wenn Sie einen Übergang vom Schulterherein zum Renvers reiten wollen, achten Sie darauf, dass nur die Biegung wechselt, aber die Abstellung, das Tempo, die Trittlänge und die Energie des Pferdes unverändert bleiben.


Mit anderen Worten, verlieren Sie nicht den Überblick über das Gesamtbild, wenn Sie an einem Detail arbeiten. Wenn Sie Ihre Trainingseinheiten genau analysieren, werden Sie wahrscheinlich viele Beispiele dieses Prinzips entdecken, dass ich hier beschrieben habe. Es ist nützlich, wenn man seine Aufmerksamkeit für diese Dinge erhöht, da man hierdurch präziser und effektiver wird und die Pferde geschmeidiger, ausbalancierter, gerade gerichteter und durchlässiger werden.


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