Als ich noch ein Teenager war, bin ich ganz unbeschwert auf jedes Pferd geklettert, egal wo, egal wann. Reiten war ein bisschen wie Fahrrad Fahren. Einfach aufsitzen und los. Im Laufe der Jahre hat sich das stark geändert. Mir wurde immer mehr klar, dass sowohl das Pferd als auch ich in der richtigen inneren Verfassung sein mussten, um produktiv arbeiten zu können. Sonst würde ich lieber darauf verzichten das Pferd zu reiten.
Diese innere Verfassung ist nicht so leicht zu beschreiben. Sie hat sich bei mir langsam im Lauf vieler Jahre herauskristallisiert. Für mich ist es wichtig, dass ich mich “geerdet” fühle, ausgeglichen, innerlich ruhig, sodass ich mich auf das Pferd konzentrieren kann, ohne abgelenkt zu sein. Wenn mich etwas belastet oder ärgert, ist es kein guter Zeitpunkt zum Reiten.
Ich brauche auch eine gewisse innere Energie, die weder zu hoch noch zu niedrig sein darf. Das passende Energieniveau ist bei jedem Pferd anders, je nach Persönlichkeit und Stimmung.
Das Pferd muss ebenfalls ruhig, präsent, geerdet und ausgeglichen sein. Wenn man versucht, ein nervöses, verspanntes oder abgelenktes Pferd zu reiten, ist es fast unmöglich, produktive Arbeit zu leisten - und das Unfallrisiko steigt beträchtlich. Dies ist einer der Gründe, warum ich die meisten Pferde vor dem Reiten gerne ein paar Minuten longiere oder an der Hand arbeite. Damit kann man schon vor dem Aufsitzen eine gewisse physische und psychische Balance herstellen und sich auf einander konzentrieren, sodass das Reiten selbst für uns beide angenehmer ist. Longieren oder Handarbeit kann zu einer Art Ritual werden, das dem Pferd und der Reiterin hilft, eine Verbindung zu einander herzustellen und gemeinsam die richtige innere Verfassung zu finden.
Auch der Arbeitsraum, d.h. der Stall und die Reitbahn müssen ein ruhige, friedliche Atmosphäre ausstrahlen. Ist die Energie im Stall und in der Bahn stressig oder vergiftet, ist es sehr schwer, gute Arbeit zu leisten, da dies das psychische und physische Wohlbefinden von Pferd und Reiter stört.
Reiten ist im Grunde eine Achtsamkeit Übung. Man sollte versuchen, vollkommen präsent zu sein und sich mit allen Sinnen auf das Pferd zu konzentrieren, einschließlich des sechsten Sinnes der Intuition.
Beobachten Sie die Parameter des Ganges: die gerittene Hufschlagfigur und die Ausrichtung des Pferdes entlang dieser Linie. Takt und Tempo der Gangart. Ist der Takt gleichmäßig oder unregelmäßig? Ist das Tempo zu schnell oder zu langsam, oder gerade richtig? Man kann dem Auffußen lauschen. Berühren alle vier Beine den Boden mit derselben Intensität, oder tritt ein Fuß lauter auf als die anderen? Wie ist das Energieniveau des Pferdes? Passt es zu dem, was man reiten möchte, oder muss man es anheben oder absenken?
Beobachten Sie auch den Muskeltonus des Pferdes, das Gefühl des Rückens und der Hinterhand, die Beweglichkeit der Hüften, Schultern, Wirbelsäule und des Brustkorbs.
Können Sie die Hinterbeine in den Zügeln spüren? Kann Ihr Gewicht durch alle vier Beine in den Boden fließen?
Können Sie alle Körperteile des Pferdes mit Ihren Hilfen erreichen oder gibt es Regionen, die man nicht fühlen oder beeinflussen kann?
Suchen Sie die Verbindung zum Herz und Verstand des Pferdes. Finden Sie heraus, was es denkt und fühlt. Konzentriert es sich auf Sie und die Arbeit, oder ist es abgelenkt? Ist es ruhig und losgelassen oder nervös und verspannt? Können Sie vorhersagen, was es in den nächsten zwei Minuten tun wird?
Beobachten Sie, welche Ausbildungsprobleme auftauchen und wie Sie innerlich darauf reagieren. Gibt es eine innere Stimme in Ihrem Kopf, die bei jedem Fehler häßliche Kommentare abgibt? Werden Sie unglücklich oder frustriert? Oder können Sie die Fehler und Ausbildungsprobleme ohne emotionale Reaktion beobachten und sich auf die Suche nach einer praktischen Lösung konzentrieren, anstatt in negativen Gefühlen zu schwimmen?
Halten Sie Ausschau nach Zeichen der Ermüdung im Pferd.
Reagiert Ihr Pferd so, wie Sie es erwartet haben? Reagiert es so, wie es die Theorie vorhersagt? Oder unterscheidet sich die Realität heute von Ihrem inneren Bild oder der Theorie in den Büchern?
Reiten Sie das Pferd, auf dem Sie sitzen? Oder versuchen Sie, das Pferd zu reiten, das Sie gerne hätten?
Zoomen Sie herein, um einen bestimmten Körperteil des Pferdes zu beobachten, ohne das Ganze aus dem Auge zu verlieren. Zoomen Sie wieder heraus, um zu beobachten, wie all die verschiedenen Körperteile mit einander zusammen arbeiten und einander gegenseitig beeinflussen. Fällt ein bestimmtes Gelenk, eine Gliedmaße oder Muskelgruppe auf, weil sie sich merkwürdig bewegt? Können Sie sehen oder fühlen, wo diese Anomalie herkommt?
Wenn ein Problem auftaucht, können Sie einen Schritt zurück machen und die Situation von allen Seiten betrachten, um eine andere, bessere Herangehensweise zu finden? Wir müssen uns davor hüten, uns festzubeißen, schwerer zu arbeiten und stärkere, gröbere Hilfen zu geben, wenn etwas nicht funktioniert. Versuchen Sie eine intelligentere Lösung zu finden, indem Sie dem Pferd die Dinge besser oder anders erklären.
Erinnern Sie sich daran, was Sie mit dem Pferd in den letzten Trainingseinheiten gemacht haben, da jede Einheit Spuren hinterlässt, wie Fußspuren im Schnee. Veränderungen passieren meist nicht über Nacht, auch wenn es manchmal so erscheint. Es sind meistens längerfristige Trends, die sehr geringfügig, beinahe unbemerkt, anfangen und sich über einen längeren Zeitraum hinweg verstärken.
Schauen Sie regelmäßig zurück und erinnern Sie sich daran, wie weit Sie seit Beginn der Arbeit mit diesem Pferd gekommen sind. Wir gewöhnen uns nur zu leicht an den Erfolg und sind dann unglücklich über all die Dinge, die in der Ausbildung noch fehlen, selbst wenn wir schon recht weit gekommen sind, in der Zeit, die wir mit dem Pferd verbracht haben.
P.S.Bodenarbeit ist eine hervorragende Möglichkeit, um mit Ihrem Pferd zu arbeiten. Sie fördert nicht nur die Oberlinie Ihres Pferdes, sondern auch sein Gleichgewicht und sein Vertrauen. Sie ist auch ein äußerst effektiver Weg, um Ihre Beziehung zueinander zu vertiefen.
Wenn Sie daran interessiert sind, Ihr Pferd und Ihre eigenen Fähigkeiten in den Bereichen Longieren, Handarbeit, Feldenhorse*, Langzügelarbeit und Doppellonge weiterzuentwickeln, der nächste Durchgang unseres 30-wöchigen Top Line Makeover Kurses beginnt am 6. Juni 2022.
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