Ein paar Gedanken zur Energie

Einleitung

In den späten During 1990er Jahren ging ich durch eine Phase, in der ich meine Pferde sehr ruhig und entspannt ritt, sodass sie sich leicht, weich und angenehm anfühlten. Bis ich an einem Lehrgang bei Arthur Kottas teilnahm und er mir sagte: “Du reitest wie eine alte Frau! Du bist doch ein junger Bursch’!” Er wollte eindeutig viel mehr Energie als ich in dem Moment vom Pferd forderte. Nachdem wir wieder zu Hause angekommen waren, schaute ich gleich meine Videos der Spanischen Reitschule an, um anhand der Vorführung der jungen Hengste zu sehen, um wieviel mehr Energie es sich genau handelte. Ich war beeindruckt davon, wieviel Ausdruck und Energie diese Pferde im Video versprühten. Von da an entschied ich, dass ich auch von meinen Pferden einen höheren Energieaufwand verlangen würde, wodurch wir uns gemeinsam weiter verbessern konnten.

Energie als ein Parameter des Ganges

Energie ist kein offizieller Bestandteil der Skala der Ausbildung. Sie ist keine konventionelle Trainingskategorie, obwohl manche Lehrer die Schüler auffordern, einen energischeren Schritt, Trab oder Galopp zu reiten. Ich vermute auch, dass Lehrer oft “mehr Energie” meinen, wenn sie sagen: “Reit mehr vorwärts!” Allerdings führt das Wort “vorwärts” oft nur zu mehr Geschwindigkeit anstatt zu mehr Energie oder Ausdruck.

Aus der offiziellen Terminologie kommt der Begriff des Schwunges dem der Energie vielleicht noch am nächsten. Er ist allerdings nicht dasselbe. Das Substantiv “Schwung” leitet sich vom Verb “schwingen” ab, womit man traditionell das taktmäßige Schwingen des Pferderückens bezeichnet. Echter Schwung ist das Produkt aus Gleichgewicht, Geraderichtung und Geschmeidigkeit in Kombination mit Energie.

Die Energie, von der ich hier spreche ist der Parameter des Ganges, der sich vielleicht mit der Drehzahl oder dem Drehmoment eines Motors vergleichen lässt. Sie bezeichnet den Energieaufwand, mit dem das Pferd arbeitet. Sie ist die Mühe, die das Pferd sich bei der Arbeit gibt. Manche Pferde besitzen von Natur aus nur sehr wenig Energie, was sich meistens auch in einem geringen Muskeltonus niederschlägt. Manche Pferde sind Energiesparer und scheinen nur mit 50% Kapazität zu arbeiten, wenn man sie gewähren lässt (genau wie manche Menschen). Andere Pferde engagieren sich zu 100% in ihrer Arbeit.

Wie viel Energie?

Pferde im Leistungssport müssen mit hohem Energieaufwand arbeiten, um die schweren Dressurlektionen ausführen und ausdrucksstarke Gänge entwickeln zu können. Je höher die Lektion, desto mehr Energie muss das Pferd dafür aufwenden. Beispielsweise erfordert eine Ecke oder Volte einen höheren Kraft- bzw. Energieaufwand als ein großer Zirkel. Eine Pirouette erfordert mehr Kraft und Energie als eine Volte. Ein Schulterherein erfordert mehr Kraft als auf einfachem Hufschlag geradeaus zu reiten. Eine Traversale erfordert mehr Energie als ein Schulterherein. Höhere Gangarten erfordern einen höheren Muskeltonus und mehr Energie als der Schritt, usw.

Allerdings können wir uns nicht einfach auf jedes beliebige Pferd setzen und gleich von Anfang an Vollgas geben, damit das Pferd unter Aufbietung all seiner Energiereserven arbeitet. Das könnte schnell zu einer Katastrophe führen, wenn das Pferd nicht darauf vorbereitet ist. Wir könnten das Pferd nämlich mit unserem eigenen hohen Energieniveau in Angst und Schrecken versetzen, oder wir könnten eine Explosion auslösen, sodass wir die Kontrolle über das Pferd verlieren, weil es sich nicht mehr ausbalancieren kann, wenn die Energie ein bestimmtes Limit übersteigt. Manche Pferde fangen an zu bocken, wenn sie Gefahr laufen umzufallen, da sie durch ein paar Bocksprünge ihre Hufe wieder unter ihren Körper bekommen und aufrecht bleiben können.

Es gibt bei allem in der Reiterei eine Obergrenze und eine Untergrenze. Wir müssen diese Grenzen respektieren, wenn wir Fortschritte machen und das Pferd gesund erhalten wollen. Falls die Energie oder die Kraft, mit welcher sich das Pferd fortbewegt, zu gering ist, spüren wir keine Verbindung zu den Zügeln, da die Impulse der Hinterbeine das Gebiss nicht erreichen können. Das Pferd wird dann mehr oder weniger auseinander gefallen und über dem Zügel gehen. Der Rücken wird durchfallen und die Hinterbeine werden relativ ungebeugt und steif bleiben.

Ist der Energie- oder Kraftaufwand hingegen zu hoch, wird das Pferd steif und verspannt sein und sich wahrscheinlich gegen die Zügel und die Reiterhilfen wehren. Folglich wird es ihm an Losgelassenheit mangeln.

Reiten ist oft die Kunst, die richtige Balance zwischen zu viel und zu wenig zu finden. Manchmal werden wir zu viel tun, zu viel verlangen und manchmal werden wir nicht genug verlangen. Immer jeweils die goldene Mitte zu finden, ist eine Lebensaufgabe.

Auf meinem eigenen Werdegang gab es Phasen, in welchen ich der Energie Priorität einräumte - auf Kosten der Losgelassenheit (weil ich in meiner Jugend hauptsächlich Warmblüter zu reiten bekam, denen es etwas an Energie fehlte). Und es gab Phasen, in denen ich mein Hauptaugenmerk auf Losgelassenheit richtete - auf Kosten von Energie und Ausdruck (wie z.B. im Lehrgang bei Arthur Kottas). Es ist nicht immer leicht, die perfekte Mischung aus Energie und Losgelassenheit zu finden.

Es ist ein Prozess

Wenn man mit jungen Remonten oder mit Reha Pferden arbeitet, muss man sich oft mit einer geringen Menge an Energie zufrieden geben, da das Pferd sich sonst aus dem Gleichgewicht schieben würde, was dazu führt, dass es sich auf die Zügel legt und sich gegen den Boden und den Reitersitz stemmt.

Also muss man die richtige Menge an Energie finden, die es dem Pferd erlaubt sich auszubalancieren, was eng mit seiner Fähigkeit verbunden ist, seine Hinterbeine zu beugen und die Last mit ihnen zu stützen. Mehr Energie bedeutet meistens, dass sich das Pferd mit größerer Schubkraft fortbewegt. Diese erhöhte Schubkraft muss durch eine erhöhte Tragkraft ausgeglichen werden. Sonst schiebt sich das Pferd auf die Vorhand. Dies erfordert sowohl eine gewisse Kraft der Beugemuskulatur, als auch eine gewisse Geschmeidigkeit der Hinterhand und der Wirbelsäule.

Arbeitet Ihr Pferd gut innerhalb des gegenwärtigen Energieniveaus, ist es notwendig, von Zeit zu Zeit, den Energieaufwand zu erhöhen, um auf das nächsthöhere Leistungsniveau zu gelangen. Dies kann unter Umständen gewisse Widerstände und Steifheiten zutage fördern, die bisher durch die geringe Schubkraft der Hinterbeine verborgen waren. Manchmal ist das Pferd vorübergehend unbequemer zu sitzen, weil die Hinterbeine zwar mehr schieben, aber sich noch nicht mehr beugen, sodass die Hinterbeine härter auftreten, weil sich die Stoßdämpfung noch nicht ausreichend verbessert hat. In diesem Fall behält man den höheren Energieaufwand bei und arbeitet dann and der Verbesserung der vertikalen Geschmeidigkeit der Hinterbeine, welche sich in Form von weicheren, elastischeren Gängen manifestiert

Bei anderen Pferden bringt der höhere Energieaufwand Muskelblockaden an die Oberfläche, die man auf einem geringerem Energieniveau noch nicht spüren konnte. In diesen Fällen mobilisiert man mit Hilfe von gezielten gymnastischen Übungen die steifen Gelenke, seien es die Hinterbeine, das Genick, der Hals, der Rücken oder die Schultern. Mobilisierung beseitigt Muskelblockaden. Und umgekehrt verbessert die Beseitigung von Muskelblockaden die Beweglichkeit der Gelenke.

Es handelt sich hier um einen allmählichen Prozess, in dem wir von Zeit zu Zeit das Energieniveau etwas anheben und anschließend die Geschmeidigkeit und Beweglichkeit der Hinterhand und der Wirbelsäule verbessern, sodass Schieben und Tragen, Strecken und Beugen der Hinterbeine einander die Waage halten. Dies braucht Zeit, da es ein beträchtliches Maß an Kraft und Ausdauer von Seiten des Pferdes erfordert, um sich kraftvoll und doch weich und geschmeidig, mit federnden, elastischen Gängen zu bewegen.

Schlussbetrachtung

Wenn Sie das nächste Mal reiten, denken Sie an die perfekte Mischung aus Energie/Kraft und Losgelassenheit in Bezug auf dieses konkrete Pferd, an diesem konkreten Tag. Gibt es Ihnen von sich aus genug Energie? Müssen Sie es auffordern, sich mehr anzustrengen, weil es sich träge und uninspiriert anfühlt? Oder geht es mit zu hohem Energieaufwand, sodass es sich hart und verspannt anfühlt? Müssen Sie folglich den Schwerpunkt auf Ruhe und Losgelassenheit, anstatt auf Kraft und Energie legen? Vieles hängt vom Temperament und dem gegenwärtigen Ausbildungsstand des Pferdes ab.

Versuchen Sie, die optimale Mischung für dieses Pferd und diese Ausbildungseinheit zu finden. Sie können das Energieniveau nach oben oder unten verschieben, ähnlich wie man an einem Herd die Temperatur höher oder niedriger einstellen kann. Ist die Herdplatte zu kalt, wird das Essen nicht zum Kochen gebracht. Ist die Herdplatte zu heiß, brennt das Essen an.

Zu einem gewissen Grad wird das Pferd auch Ihre eigene Energie widerspiegeln. Wenn Sie Ihr eigenes Energieniveau anheben, werden die meisten Pferde ihre Energie ebenfalls anheben. Senken Sie dagegen Ihre eigene Energie, wird das Pferd Ihnen in der Regel darin folgen.

Sie können das Energieniveau des Pferdes auch anheben, indem Sie schnelle Abfolgen von Übergängen zwischen den Gangarten und innerhalb einer Gangart reiten, kombiniert mit scharfen Wendungen und einigen Tritten in Seitengängen.

Wollen Sie Ihr Pferd hingegen eher beruhigen als aufwecken, wählen Sie einen meditativen Schritt oder längere Reprisen im ruhigen Trab auf weich fließenden Hufschlagfiguren. Sie können auch Seitengänge im Schritt oder Trab mit einbauen. Bügeltrittsequenzen, die alle vier Beine mit dem Boden verbinden, haben ebenfalls eine beruhigende Wirkung. Je besser das Pferd ausbalanciert und “geerdet” ist, desto emotionell ruhiger und ausgeglichener wird es in der Regel sein, selbst wenn es mit 100% Kapazität arbeitet.

Wenn Sie vorgehen, wie ich es oben beschrieben habe, werden die Gänge Ihres Pferdes im Laufe der Jahre größer, kraftvoller und audrucksstärker werden.