Der denkende Reiter

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Einleitung
Der preussische Kavallerie Offizier und Buchautor Otto von Monteton schrieb 1877: “… ich habe, nachdem ich, als ich noch diente, ein Chargenpferd fünf Jahre gearbeitet hatte, und es so gut ging, daß ich jetzt seit zehn Jahren auf keinem besser gehenden gesessen habe, die Überzeugung gewonnen, daß, wenn ich es noch einmal zu arbeiten hätte, ich es ganz anders reiten würde, da man eben, wenn man vom Rathause kommt, nach rückwärts gesehen, die Abwege entdeckt, auf denen man zeitweise gewandelt ist. Je weiter man kommt, desto mehr sieht man ein, wie wenig man weiß.” Wir kennen wahrscheinlich alle dieses Gefühl, da wir von jedem Pferd, mit dem wir arbeiten, und von jeder Trainingseinheit etwas lernen.

Strategien zur Problemlösung
Jedes Pferd und jede Trainingssituation konfrontiert uns mit Herausforderungen und Problemen, die wir lösen müssen, da kein Pferd und kein Reiter je perfekt ist. Es gibt immer etwas zu verbessern. In gewisser Weise geben uns jedoch die Mängel und Unvollkommenheiten eine Aufgabe. Ohne sie hätten wir quasi nichts zu tun.


Um ein Arbeitsthema, eine Übung, oder eine spezifische Hilfe auszuwählen, müssen wir das jeweilige Pferd und die Trainingssituation analysieren. Normalerweise bemerken wir zuerst Oberflächensymptome, wie eine zu schwere, zu harte oder ungleichmäßige Anlehnung, Steifheit in den Hinterbeinen, den Schultern oder im Brustkorb, oder Probleme bei einer Wendung, einem Übergang oder einer Lektion.


Haben wir ein bestimmtes Problem beobachtet, müssen wir aufgrund unseres theoretischen Wissens die Ursache seiner Symptome ermitteln. Dazu formulieren wir eine Arbeitshypothese, die wir testen, indem wir eine bestimmte Übung reiten oder indem wir Hilfen anwenden, die die Situation verbessern sollten, falls unsere Diagnose richtig ist. Bleiben die Oberflächensymptome unverändert oder verschlechtern sie sich sogar, war unsere Arbeitshypothese wahrscheinlich falsch. Verbessern sie sich, war sie wahrscheinlich richtig. Mit anderen Worten, die Antwort des Pferdes wird uns sagen, ob unsere Diagnose richtig oder falsch war. Stellt sie sich als falsch heraus, streichen wird diese Möglichkeit von unserer Liste und suchen nach einer anderen potentiellen Ursache, womit der diagnostische Kreislauf von neuem beginnt.

Relevante Daten sammeln
Um eine Situation zu beurteilen und Entscheidungen zu treffen, brauchen wir Daten. Zum Glück sendet das Pferd einen kontinuierlichen Strom von Daten und Informationen aus, die alles enthalten, was wir wissen müssen. Wir empfangen diese Informationen durch unsere Hände, Oberschenkel, Knie, Unterschenkel und das Becken. (Die Vorstellung, dass die Lösung immer genau vor meiner Nase war und ich sie nur nicht sehen konnte, hat mich früher verrückt gemacht). Die Herausforderung besteht darin zu lernen, worauf man sich konzentrieren sollte, wie man die Informationen filtert, welche Daten relevant sind und welche nicht, wie man sie richtig interpretiert und wie man die richtigen Fragen stellt, die zu weiteren Informationen führen, welche die verbleibenden Lücken füllen.


Das Pferd reagiert auf jede Veränderung im Sitz und auf jede Hilfe, die wir geben, indem es entweder besser oder schlechter wird. In manchen Fällen ignoriert das Pferd eine Hilfe und es passiert nichts. Das ist ebenfalls eine wichtige Information. Wir können eine Datenbank mit “Dingen, die unser Pferd besser machen” und mit “Dingen, die unser Pferd schlechter machen”, aufbauen, indem wir genau beobachten, wie unser Pferd auf Veränderungen im Sitz und der Hilfengebung reagiert. Hat die Datenbank eine gewisse Größe erreicht, können wir versuchen mehr von den Dingen tun, die unser Pferd verbessern und diejenigen Dinge vermeiden, die unser Pferd verschlechtern.


Darüberhinaus enthält die Art und Weise, wie das Pferd Wendungen, Übergänge und Lektionen bzw. zusammengesetzte Übungen ausführt, jede Menge interessante und wichtige Daten über den Ausbildungsstand des Pferdes. Man kann daraus ablesen, welche Körperteile steif sind, welche hypermobil sind, welche Muskeln kräftig sind, welche schwach sind, wie gut es ausbalanciert ist, wie gerade gerichtet es ist, wie koordiniert es ist, wie gut sein Körpergefühl ist, usw.


Beobachtet man etwas Interessantes, z.B. wenn das Pferd einen Fehler macht oder Widerstand gegen eine Hilfe leistet, muss man vielleicht das Problem erst genauer untersuchen und mehr Daten sammeln, in der Hoffnung, dass ein bestimmtes Muster sichtbar wird. Man kann dazu dieselbe Übung mit unterschiedlichen Hilfenkombinationen und Sitzvariationen wiederholen, oder man kann zusätzliche Übungen entwerfen, die dieselbe Information aus unterschiedlichen Blickwinkeln präsentieren oder die unterschiedliche Körperteile ansprechen. Dies hilft bei der Identifikation der genauen Ursache des Problems. Das bedeutet, dass wir manchmal der Versuchung widerstehen sollten, das Problem sofort korrigieren zu wollen, und uns stattdessen Zeit nehmen um die zugrundeliegende Ursache gründlich zu erforschen, da uns dies langfristig Zeit spart.

Diagnostische Fragen
Im Zuge dieser Forschungsarbeit kann man sich folgende Fragen stellen:
- Unter welchen Umständen tritt der Fehler auf?
- Passiert er immer an derselben Stelle einer Übung?
- Was wird dem Pferd in diesem Moment biomechanisch abverlangt (z.B. Gewichtsverlagerung von einer Körperseite zur anderen, Schultern wenden, Biegung wechseln, Brustkorb bewegen, übertreten mit der Hinterhand, vermehrte Beugung der Hankengelenke, vermehrtes Schieben)?
- Tritt das Problem auf beiden Händen auf, oder nur auf einer? Tritt das Problem jedesmal auf, wenn man eine bestimmte Stelle der Reitbahn passiert?
- Ändert das Pferd ohne Erlaubnis einen Parameter des Ganges (Tempo, Geraderichtung, Gewichtsverteilung)? Wird es schneller oder langsamer? Verlässt es die zu reitende Linie? Weichen die Schultern nach innen oder außen von der Linie ab? Weicht die Hinterhand nach innen oder außen vom Kurs ab? Wird die Distanz zwischen Hinterbeinen und Vorderbeinen größer?

Diese Fragen zeigen Ihnen, was wichtig ist und worauf man sich konzentrieren sollte. Die Antworten zu diesen Fragen werden Sie zur richtigen Diagnose der zugrundeliegenden Ursache führen.

Ein gutes Beispiel, das wahrscheinlich alle Reiter durchmachen - vor allem während der frühen Phasen ihrer Ausbildung - sind die Momente, in denen das Pferd plötzlich über den Zügel geht, insbesondere bei Übergängen. Zunächst scheint dies ohne jeden Grund zu passieren. Allerdings passiert derselbe Fehler meistens immer an derselben Stelle der Bahn, was der Reiterin eine gute Gelegenheit zur Beobachtung bietet. Ein guter Anfangspunkt ist, sich zu fragen was man selbst dazu beigetragen hat. Wenn wir genau genug hinschauen, werden wir oft feststellen, dass sich etwas in unserem Körper verändert hat. Ein sehr häufig auftretendes Szenario besteht darin, dass die Reiterin die Stabilität in der Lendenwirbelsäule verliert, ihre Hüften blockiert, ein wenig nach vorne fällt (wodurch das Pferd auf die Vorhand gedrückt wird) und sich mit den Händen festhält (wodurch der Pferderücken und die Hinterhand blockiert werden). Sobald wir unseren Anteil an dem aufgetretenen Fehler identifiziert haben, können wir anfangen ihn zu verhindern, wenn wir denselben Übergang das nächste Mal reiten oder dieselbe Stelle der Bahn passieren.


Nachdem wir unseren Sitz und unsere Hilfen kontrolliert haben, können wir die Fehleranalyse fortsetzen, indem wir das Pferd mit Hilfe der oben aufgeführten Fragen scannen. Die Liste ist natürlich offen und kann beliebig erweitert werden. Eine sehr häufige Ursache dafür, dass Pferde über den Zügel gehen, ist ein Balanceverlust, der durch eine leichte Veränderung im Tempo oder eine leichte Schiefe herbeigeführt wird. Manche Pferde sind in dieser Hinsicht so empfindlich, dass sie über den Zügel gehen, wenn die Schulter auch nur ein paar Millimeter seitlich ausweicht.

Zusammenfassung
Eine der wichtigsten Aufgaben der Reiterin besteht darin, ihren Sitz und ihr Pferd ständig genauestens zu beobachten und sich nach einer Trainingseinheit darüber Gedanken zu machen was gut ging, was nicht gut ging, was modifiziert oder aufgegeben werden muss und was beibehalten werden kann, um weiter darauf aufzubauen.


Bei dieser Vorgehensweise wird das Pferd zu unserem Lehrer und ermöglicht uns ein tieferes und differenzierteres Verständnis seiner Psyche und seines Körpers. Unsere theoretischen Studien vermitteln uns das Verständnis der Pferdepsychologie und der gymnastischen Ausbildungsprinzipien.


Durch Beobachtung und Reflexion lernen wir ständig dazu, manchmal auf dem Gebiet der Technik, manchmal auf dem Gebiet der Psychologie und manchmal nahezu spirituell. Wir lernen auf diesem Weg genauso viel über uns selbst wie über unser Pferd und die Dressur.