Gute Ritte, Schlechte Ritte

Einleitung

Wir haben wahrscheinlich alle schon Tage erlebt, an denen wir das Gefühl hatten, dass wir komplett vergessen haben, wie man reitet und an denen wir nichts richtig machen konnten. Ich vermute, dass wir nie ganz sicher vor solchen Erfahrungen sind, so lange wir reiten. Zum Glück werden sie jedoch immer seltener, je mehr wir lernen. - Oder vielleicht nehmen wir schlechte Ritte auch einfach nicht mehr so persönlich, weil wir wissen, dass bald auch wieder ein guter Ritt kommen wird. Genau wie wir wissen, dass nach einem guten Ritt auch wieder schwierigere auf uns warten.

Mehr als nur ein Sport

Obwohl Reiten eindeutig eine physische Aktivität ist, die eine gewisse Fitness bei Pferd und Reiterin voraussetzt, besitzt es auch eine emotionelle, geistige und psychologische Dimension. Als wir anfingen zu reiten, hatten die meisten von uns wahrscheinlich keine Ahnung worauf wir uns einließen. Wir dachten wahrscheinlich, dass dies einfach nur ein Sport wie alle anderen ist, bei dem man gewisse technische Fertigkeiten erwerben muss.

Reiten ist jedoch viel mehr, da es eine Aktivität ist, die wir gemeinsam mit einem anderen Lebewesen ausüben, das seine eigene Persönlichkeit besitzt, seine eigenen Neigungen und Abneigungen, Ängste, Eigenheiten, vergangene Erlebnisse, Traumata, sowie seine eigenen Vorstellungen davon, was Spaß macht und was es gerade am liebsten tun würde.

Die Komplexität, ein gewisses technisches Können gemeinsam mit dem Pferd zu erwerben (denn das Pferd muss lernen, Wendungen, Übergänge und Lektionen gut ausbalanciert unter dem Reitergewicht auszuführen) UND dabei gleichzeitig die Beziehung mit ihm zu pflegen und zu verbessern, kann zu allen möglichen Herausforderungen führen, die wir nie erwartet hätten, als wir diese Reise antraten. Im Film und auf Videos sieht immer alles so leicht aus und in unserer Fantasie hatten wir uns eine endlose Serie wundervoller Erlebnisse mit unserem vierbeinigen Freund ausgemalt.

Diese wundervollen Erlebnisse existieren auch tatsächlich, aber sie wollen verdient sein, indem wir viele Dinge lernen, die weit über die reitsportliche Technik hinausgehen. Der physische Aspekt ist sogar in gewisser Weise der leichteste, obwohl es dem Anfänger zunächst nicht so erscheint.

Viel schwieriger (und viel schmerzhafter) ist es, zu lernen mit unseren eigenen unerfüllten Erwartungen, Frustrationen, Selbstverurteilungen, Enttäuschungen, unserer Ergebnisorientiertheit, unserem Ego, das glaubt, wir wären weiter fortgeschritten als es in Wahrheit der Fall ist, sowie unseren negativen Eigenschaften im allgemeinen umzugehen. Pferde halten uns einen Spiegel vor und uns gefällt nicht immer, was wir darin erblicken. Deshalb ist es manchmal emotionell viel schmerzhafter reiten zu lernen, als wir uns vorstellen konnten.

Gute und schlechte Ritte

Wir müssen uns mit der Tatsache anfreunden, dass es immer gute und schlechte Ritte geben wird. Es wäre natürlich schön, wenn es nur gute Ritte gäbe, aber das ist äußerst unwahrscheinlich. Das Lernen vollzieht sich nicht in einer geraden Linie oder in einer parabolischen Kurve, sondern in Schüben. Es gibt immer ein auf und ab, Lernphasen, in denen wir sichtbare Fortschritte machen und Plateauphasen, in denen wir zu stagnieren scheinen. Wir müssen Umwege und Sackgassen erkunden, die uns mehr Zeit kosten, als wenn wir sie hätten vermeiden können. Die Tage an denen wir nicht das Gefühl haben, “die Nadel bewegt” und Fortschritte erzielt zu haben, können sich wie schlechte Ritte anfühlen. Zumindest ging mir das früher so. Rückblickend ist mir klar geworden, dass dies alles notwendige und wertvolle Erfahrungen waren, aus denen ich wichtige Dinge gelernt habe und die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. ALLE Erfahrungen, die angenehmen wie die unangenehmen, sind notwendig um ein reifer Mensch und ein reifer Reiter und Ausbilder zu werden.

Die manisch-depressive Achterbahn

In meiner Jugend definierte ich mich über meine Reiterei. Ich identifizierte mich vollkommen mit meinem letzten Ritt. Nach einem guten Ritt war ich obenauf. Ich war unfehlbar. Ich war ein Genie. Nach einem schlechten Ritt fühlte ich mich hingegen als hoffnungsloser Fall, der es nie lernen würde. Ich war zu doof zum reiten. Ich war talentfrei. Alle anderen machten schnellere Fortschritte als ich … Sie wissen, was ich meine. Die Depressionen dauerten bis zum nächsten guten Ritt. Es war eine emotionelle Achterbahn, die unglaublich erschöpfend war - und sehr ungesund. Heute denke ich, das dies daher rührte, dass ich mein Selbstwertgefühl daran gekoppelt hatte, ein guter Reiter zu sein oder zu werden.

Eine ausgewogenere Perspektive

When ich mir alle Ritte mehr objektiv anschaue, ohne die ungezügelten Emotionen, dann stelle ich fest, dass erstens kein Ritt ausschließlich gut oder schlecht war, auch wenn es sich im Moment so anfühlte. Selbst in unseren schlechtesten Ritten haben wir wahrscheinlich auch einiges richtig gemacht. Und in unseren besten Ritten haben wir wahrscheinlich auch Fehler gemacht. Das liegt einfach in der Natur der Sache.

Ritte, die wir als gut empfinden, geben uns das Gefühl, dass wir REITEN können. Sie geben uns Selbstvertrauen und Hoffnung. Sie helfen uns auch dabei, unsere Reise fortzusetzen, anstatt aufzugeben, wenn der Weg wieder besonders beschwerlich erscheint.

Ritte, die wir als schlecht empfinden, geben uns das Gefühl, dass wir hoffnungslos und talentfrei sind. Sie zerstören unser Selbstwertgefühl, da sie uns zeigen, dass wir bei weitem nicht so weit fortgeschritten sind, wie wir an guten Tagen geglaubt hatten. Sie sind Realitäts-Checks, die uns auf den Boden der Tatsachen zurück holen und uns lehren, dass wir noch viel mehr zu lernen haben.

Die schlechten Ritte bereiteten mir viele Jahre hindurch großen Kummer - bis mir klar wurde, dass diese schlechten Ritte in Wahrheit wertvoller waren als die guten, da sie mir den Impetus zu weiteren Fortschritten verhalfen. Nach einem guten Ritt können wir uns auf die Schulter klopfen und uns gratulieren, wie gut wir doch sind. Wenn alles glatt geht, braucht man nichts zu verändern. Und das ist gefährlich, weil man dadurch selbstgefällig werden kann und aufhört sich weiter zu entwickeln. Daher kommt das taoistische Sprichwort, dass Schmeicheleien gefährlicher sind als Kritik.

Der Wert eines “schlechten” Rittes liegt nicht so sehr darin, was ich WÄHREND des Rittes lerne, sondern in den Erkenntnissen, die ich durch den nachfolgenden analytischen Prozess gewinne.

Nach diesen Ritten fühlen wir uns als Versager, weil wir etwas nicht ausführen konnten, von dem wir glaubten, dass es möglich sein müsste. Sie halten uns unsere Unzulänglichkeiten vor Augen. Sie zeigen uns, wo wir zu ungenau, zu schlampig, zu unkoordiniert, zu ungeschickt, zu abrupt, zu hastig, zu spät, usw. sind. Das Pferd teilt uns mit, dass das was wir für akzeptabel hielten, nicht nur INakzeptabel ist, sondern (manchmal) sogar richtig schlecht. Uns wird augenblicklich bewußt, wo überall Löcher in unserer Reiterei und in der Ausbildung unseres Pferdes sind. Da ich dieses Gefühl des Versagens und der Unzulänglichkeit immer gehaßt habe, arbeitete ich wie besessen an der Fehleranalyse und dem Finden von Lösungsansätzen. Ich war erst dann zufrieden, wenn ich einen erfolgversprechende Ansatz gefunden hatte.

So emotionell herausfordernd dieses üble Erwachen auch sein kann, so zeigt es uns dennoch genau, woran wir von jetzt ab arbeiten müssen. Es liegt eine Chance in dem Elend. Wenn wir die Realität akzeptieren, die uns gerade vorgehalten wurde, und die Probleme angehen, auf die wir aufmerksam gemacht wurden, dann werden wir reiterlich weiterkommen und wachsen. Das kann ein paar Tage oder Wochen dauern, da es ein gewisser Prozess ist, sich mit diesen unangenehmen Erkenntnissen anzufreunden, herauszufinden, wo die Wurzel des Übels steckt und dann eine Lösung zu finden und umzusetzen. Das scheint jedoch (für mich jedenfalls) der einzige Weg zu sein echte Fortschritte zu machen.

Perspektive bewahren - Das Zen des Reiten Lernens

Nur weil man einen schlechten Ritt hatte oder einen Fehler gemacht hat, ist man noch nicht automatisch inkompetent oder ein hoffnungsloser Fall. Andererseits ist man nicht automatisch ein großer Reiter, wenn man einen Preis gewinnt oder in der Öffentlichkeit gepriesen wird.

Im Großen und Ganzen gesehen sind dies nur kleine Teile des großen Puzzles, welches unseren gesamten Erfahrungsschatz ausmacht und wir müssen lernen, sie alle in uns aufzunehmen, ohne durch sie zu sehr beeinflußt zu werden. Es ist leicht, sich von einem einzelnen Ereignis vereinnahmen zu lassen. Nach einem schlechten Ritt kann man am Boden zerstört sein, bereit aufzugeben, während ein guter Ritt oder ein Lob unser Ego aufblähen kann, sodass wir glauben besser zu sein als es in Wahrheit der Fall ist. Deshalb ist es gut, nach besonders guten oder schlechten Erlebnissen einen Schritt zurück zu tun, um alles in die rechte Perspektive zu rücken, ohne die Beeinträchtigung der momentanen Emotionen.

Manchmal denke ich, dass die größten Meister vielleicht nicht unbedingt die talentiertesten Reiter waren, sondern diejenigen, die die innere Kraft besaßen, die schwierigsten Ritte zu verarbeiten und die (subjektiven) Niederlagen und schmerzhaften Erlebnisse in Siege zu verwandeln, indem sie die darin enthaltenen Lektionen lernten. So wie in Aikido jeder Schlag eines Angreifers als Geschenk angenommen wird (George Leonard, The Way of Aikido. Life lessons from an American sensei, 1999), können wir versuchen, die “schlechten Ritte”, nach denen wir uns niedergeschlagen und inkompetent fühlen, als Lerngelegenheiten anzusehen, während wir von erfolgreichen, phantastischen Ritten weitaus weniger lernen. Diese vermitteln uns lediglich ein Glücksgefühl. Für eine ausbalancierte Entwicklung brauchen wir beides. Ohne die schweren Erfahrungen würden wir wahrscheinlich nie über das Mittelmaß hinauskommen, und ohne die aufbauenden, “perfekten” Ritte würden wir wahrscheinlich den Mut verlieren, die Reise fortzusetzen.