8 verschiedene Arten von Übungen

Einleitung


Viele Reiter behandeln Dressurlektionen wie Tricks, die man einem Pferd beibringt, weil sie in einer Turnieraufgabe verlangt werden, oder weil sie hübsch aussehen. Sie scheinen zu erwarten, dass man relativ bald ein fertiges Produkt abliefern kann und sie glauben, dass man die Lektion einfach durch wiederholen und “üben” verbessern kann. Wenn man jedoch immer dieselben Lektionen mit demselben Sitz und denselben Hilfen wiederholt, wird man kaum ein anderes Ergebnis produzieren können.


Aber was bedeutet es für das Pferd, eine bestimmte Lektion auszuführen - mit dem Reitergewicht auf dem Rücken, das seinen Schwerpunkt und seine Balance verändert und das seine Bewegungsfreiheit bedeutend einschränken kann.

  • Wie muss das Pferd seine Balance und seine Haltung verändern, um die Lektion ausführen zu können?
  • Welche Muskeln muss es einsetzen?
  • Welches Bein muss wohin?
  • Welches Bein muss die Hauptlast stützen, damit es nicht umfällt?
  • Welche Voraussetzungen muss es erfüllen, damit es die Lektion ausführen kann?
  • Welche Fertigkeiten muss es vorher erwerben?

 

Eine andere Denkweise


Ich versetze mich gerne in die Situation des Pferdes und denke über diese Dinge nach, weil sie mir helfen zu verstehen, was vom Pferd verlangt wird und wie ich ihm helfen kann. Dann kann ich dem Pferd mit Hilfe von anderen Übungen eine Treppe aus kleinen Lernschritten bauen, die ihm die Voraussetzungen für die Traversale, den fliegenden Wechsel, die Pirouette oder jede sonstige Lektion beibringen, die ich reiten möchte.


Wenn man eine Treppe hochklettern muss, bei der die einzelnen Stufen über 1m hoch sind, dann ist dies sehr mühsam. Man kommt nur langsam voran und wird erschöpft sein bevor man oben ankommt. Sind die einzelnen Stufen dagegen nur einige Zentimeter hoch, kann man die Treppe praktisch hinaufrennen und in kurzer Zeit oben ankommen, ohne müde zu sein. Mit der Pferdeausbildung verhält es sich ähnlich. Versuchen Sie daran zu denken, wie Sie eine Treppe aus Übungen bauen können, die das Pferd in logischen Schritten von hier nach dort führen, sodass jeder neue Schritt auf dem vorherigen aufbaut. Sollte das Pferd Schwierigkeiten mit einer dieser Stufen haben, überlegen Sie, wie Sie sie in mehrere kleinere unterteilen können. Dadurch wird das Lernen und das Training dem Pferd Spaß machen und (relativ) leicht sein und Sie können unnötigen Stress bei Pferd und Mensch vermeiden.

Mit anderen Worten, Sie können jede komplexe Bewegung in ihre elementaren Bestandteile zerlegen. Dann können Sie diese einzeln in Zeitlupe üben, sodass das Pferd Zeit hat, über sie nachzudenken und verstehen zu lernen, was es genau zu tun hat. Wenn Sie einzelne Teilaspekte von komplexen Lektionen üben, finden Sie auch sehr schnell heraus, welcher Aspekt der Traversale oder des fliegenden Wechsels für das Pferd besonders schwierig ist und was das Pferd daran hindert, die Lektion gut auszuführen.

Anstatt zu versuchen, eine Lektion durch “Üben” zu verbessern, indem man sie immer wieder in derselben Art und Weise wiederholt, in der Hoffnung, dass das Ergebnis sich ändern wird, versuche ich zu analysieren, was das Pferd daran hindert, die Lektion (gut) auszuführen.

Ich untersuche dies, indem ich dem Pferd anhand von Übungen Fragen stelle, wie:

  • “Kannst Du Dein Gewicht nach rechts oder links verschieben?”
  • “Kannst Du Deine Schultern bewegen?”
  • “Kannst Du Deine Hüften bewegen?”
  • “Kannst Du Deine Wirbelsäule links oder rechts biegen?”
  • “Kannst Du jederzeit anhalten?”
  • “Kannst Du jederzeit wenden?”, usw.

Die Antworten des Pferdesauf diese Fragen sagen mir viel über die Wissensbasis, das Körpergefühl, das Balanciervermögen, die Geschmeidigkeit, die Kraft und das Verständnis der Hilfen des Pferdes. Durch die geschickte Auswahl der Übungen kann man sich sehr schnell ein genaues Bild von den Stärken und Schwächen des Pferdes machen, wodurch man dann wiederum in der Lage ist, ein Trainingsprogramm zusammenzustellen, das dem Pferd hilft, seine Defizite zu überwinden.


Vergleichen wir unsere Analyse der Stärken und Schwächen des Pferdes mit der Liste der Zutaten einer bestimmten Lektion, können wir im Vorhinein abschätzen, ob das Pferd schon so weit ist, dass wir diese Lektion probieren können oder ob wir vorher noch an manchen dieser Zutaten separat arbeiten müssen, bevor wir sie alle zusammen mischen können.

 

Biomechanik


Vom Standpunkt der Biomechanik aus betrachtet, kann man sagen, dass das Pferd in den traditionelle Dressurlektionen wie Seitengängen, Pirouetten, fliegenden Wechseln oder Piaffen und Passagen seine Hufe anders setzen muss, als wenn man einfach im Schritt, Trab oder Galopp geradeaus reitet.


Eine andere Fußsetzung impliziert eine andere Balance und eine andere Haltung.
Eine andere Balance und eine andere Haltung implizieren, dass andere Muskelgruppen gebraucht werden.


Diese Muskeln sind oft zunächst nicht besonders gut entwickelt. Manchmal sage ich im Scherz, dass diese Muskeln so gut wie neu sind, da das Pferd sie noch kaum benützt hat.


Wenn ein Pferd einen Muskeln noch nie so richtig benützt hat, dann ist die neurologische Verbindung vom Gehirn zu diesem Muskel oft sehr schlecht, d.h. das Pferd hat Schwierigkeiten, diesen Muskel einzusetzen. In dieser Hinsicht geht es den Pferden genau wie uns.


Wenn wir uns plötzlich anders bewegen sollen und andere Muskeln benützen müssen als zuvor, dann fühlen wir uns anfangs sehr ungeschickt an. Probieren Sie zum Spass, die Mistgabel beim Ausmisten einmal in der anderen Hand zu halten, oder machen Sie bei der Handarbeit einen Handwechsel, sodass die Gerte in der anderen Hand liegt, dann wissen Sie, was ich meine.


Das erscheint vielleicht selbstverständlich, aber es ist nicht so trivial, wie man zunächst glauben mag, da viele Pferde kein gutes Körpergefühl besitzen. Sie wissen nicht unbedingt, wie viele Hufe sie haben, oder wo sie sich gerade befinden, oder wie sie einen bestimmten Huf von A nach B bewegen können, ohne umzufallen. Und die Förderung des Körperbewusstseins spielt in den meisten traditionellen Dressurmethoden keine zentrale Rolle.


Da müssen wir also oft ansetzen. Wir müssen neurologische Verbindungen zwischen dem Gehirn und den verschiedenen Muskelgruppen herstellen, sodass das Pferd lernt, wie es sie finden und aktivieren kann. Je regelmäßiger das Pferd bestimmte Muskelgruppen benützt, desto leichter wird es, diese anzusprechen, bis dies zur Gewohnheit wird.


Je mehr ein Muskel gebraucht wird, desto kräftiger wird er, sodass das Pferd nach und nach eine bestimmte Haltung auch über längere Zeiträume einnehmen kann.


Das deutet auf eine bestimmte natürliche Progression im Training hin, die dem Pferd das Lernen erleichtert:

  • Körperbewußtsein
  • Balance
  • Koordination
  • Geschmeidigkeit
  • Kraft/Ausdauer

Man fängt also in der Ausbildung mit dem Gehirn des Pferdes an und geht allmählich vom Körperbewußtsein, der Balance und Koordination zu den “sportlicheren” Aspekten des Trainings über, wie die Verbesserung von Geschmeidigkeit, Kraft und Ausdauer. Es gibt natürlich keine absolute, unveränderliche Abgrenzung dieser Gebiete. Es gibt immer Überschneidungen, aber es hilft uns, wenn wir einen bestimmten philosophischen, strategischen Rahmen im Hinterkopf haben, der unseren Bemühungen eine gewisse Struktur gibt.

Diese Lernschritte, die ich gerade skizziert habe, eignen sich auch gut als Kategorien für Übungen.  Sie können durch ein paar andere Kategorien erweitert werden, wie die Erklärung der Verbindungen zwischen dem Reiterkörper und dem Pferdekörper. Jeder Teil des Reiterkörpers, der das Pferd direkt oder indirekt berührt, kann mit dem Teil des Pferdekörpers kommunizieren, den er berührt. Man kann mit dem Pferd ganze Unterhaltungen über die Bedeutung dieser Kommunikationen (d.h. Hilfen)  durch die Waden, Knie, Oberschenkel, Steigbügel, Hände, Gesäßknochen, Beckenboden, usw. führen.


Systematik der funktionalen Kategorien von Übungen


Wenn ich die Übungen, die ich bei der Ausbildung verwende, unter diesem speziellen Blickwinkel betrachte, dann fallen mir die folgenden 8 systematischen Kategorien ein. In meiner akademischen Ausbildung war ich Strukturalist, was mir bis heute anhaftet. D.h. ich betrachte alles als ein System und ich versuche, zu verstehen, welches die elementaren Teile des Systems sind, worin ihre Funktion innerhalb des Systems besteht und welche Regeln ihr Zusammenspiel mit den anderen elementaren Teilen bestimmen.

  1. Bestimmte Fähigkeiten testen und verbessern
  2. Verbessern des Körperbewußtseins und der Koordination
  3. Bestimmte Hilfen und Bewegungen erklären und verbessern
  4. Das Pferd mit den Hilfen und dem Boden verbessern
  5. Verbesserung der allgemeinen Geschmeidigkeit des Körpers
  6. Gezielte gymnastische Entwicklung bestimmter Muskelgruppen
  7. Vorbereiten und Verbessern von Übergängen
  8. Vorbereiten und/oder Verbessern von bestimmten Dressurlektionen

Diese 8 Kategorien sind nicht in Stein gemeißelt. Sie können gerne Ihr eigenes System mit zusätzlichen - oder völlig verschiedenen - Kategorien entwickeln. Ich ermutige Sie jedenfalls, systematisch über die Dressur nachzudenken. Versuchen Sie, der Vielfalt Ihres theoretischen Wissens und Ihrer praktischen Erfahrungen, die Sie im Laufe der Jahre erworben haben, eine Struktur zu geben. Das erleichtert auch die Einordnung und Bewertung neuer Beobachtungen.

Im Folgenden möchte ich einige konkrete Beispiele für die Art der Übungen geben, die ich in jeder Kategorie verwende. Es würde viel zu weit führen, eine vollständige Liste und Diskussion dieser Übungen zu geben. Das würde ein ziemlich umfangreiches Buch ergeben. Aber Sie können Ihre eigenen Übungen aus den Anregungen der Liste zusammenbauen.

 

1. Bestimmte Fähigkeiten testen und verbessern


Die Übungen fungieren sowohl als diagnostische als auch als therapeutische Werkzeuge. Auf der einen Seite zeigen Sie uns, wo die Ausbildungsdefizite des Pferdes liegen, d.h. wo ein Muskel steif oder schwach ist, oder wo es an Körpergefühl und Koordination mangelt. Andererseits verbessern die Übungen genau diese Defizite.

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Balanciervermögen:

Ein bestimmtes Hinterbein im Halten aufheben lassen, oder mit einem bestimmten Hinterbein aus dem Halten antreten. Jede Übung, die die Gewichtsverteilung über den Stützbeinen verändert Gewichtsverlagerung von einem Bein oder Beinpaar zum anderen (Richtungswechsel, Zickzacks, hin und her Treten)


Mobilisieren des Beckens: Seitengänge, Vorhandwendung in der Bewegung, ganzer Travers


Mobilisieren der Schultern: Ecken, Volten, Achten, Schlangenlinien, Hinterhandwendung, Passaden, Pirouetten

Wirbelsäule: Biegungswechsel

Genick: Seitliche Biegeübungen an der Hand und unter dem Sattel


2. Verbessern des Körperbewußtseins und der Koordination


Entwicklung des Körperbewußtseins des Pferdes und der Koordination der Vorder- und Hinterbeine: Anhalten in alle 4 Beine Einzelne Beine aufheben im Halten Antreten aus dem Halten mit einem bestimmten Hinterbein Kombinationen von Vorhandwendung in der Bewegung, Pirouette renversée, Hinterhandwendung, Passade und ganzem Travers

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3. Bestimmte Hilfen und Bewegungen erklären und verbessern


Schenkel und Zügel Kombinationen:

  • Innerer Schenkel + innerer Zügel
  • Innerer Schenkel + äußerer Zügel
  • Äußerer Schenkel + äußerer Zügel
  • Äußerer Schenkel + innerer Zügel
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Steigbügel und Zügel Kombinationen:

  • Linker Bügel + linker Zügel
  • Linker Bügel + rechter Zügel
  • Linker Bügel + beide Zügel
  • Rechter Bügel + rechter Zügel
  • Rechter Bügel + linker Zügel
  • Rechter Bügel + beide Zügel
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4. Das Pferd mit den Hilfen und dem Boden verbessern

  • Unterschenkel der Reiterin - Hinterbein des Pferdes
  • Knie der Reiterin - Pferdeschulter
  • Oberschenkel der Reiterin - Brustkorb des Pferdes
  • Zügel - Hals/Genick des Pferdes und Pferdebeine
  • Reitergewicht - Pferdebeine
  • Bügeltritt verbindet das Gewicht durch die Pferdebeine mit dem Boden
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5. Verbesserung der allgemeinen Geschmeidigkeit des Körpers


Mobilisierung von Schultern, Becken und Wirbelsäule des Pferdes in derselben Übung (z.B. Kombinationen von einem Seitengang, einer Wendung und einem Biegungswechsel in einer Übung)

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6. Gezielte gymnastische Entwicklung bestimmter Muskelgruppen

 

  • Hals/Genick: Seitliche Dehnungsübungen
  • Schulter: Ecken, Volten, Achten, Schlangenlinien, Hinterhandwendung, Passaden, Pirouetten
  • Brustkorb: Biegungswechsel, unmittelbar gefolgt von einem Seitengang
  • Bauchmuskulatur: Übergänge, Wendungen, Seitengänge
  • Hinterbeine: Seitengänge, Anhalten in ein Hinterbein, Rückwärtsrichten, Piaffe, Passage, Pirouette
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7. Vorbereiten und Verbessern von Übergängen


Dem Pferd die Balance und die Rumpfmuskelanspannung verleihen, die es für den Übergang braucht, (z.B. vor dem Einsprung in den Galopp, den äußeren Hinterfuß unter den Körper bringen und beugen)

  • Schritt - Halt Paraden in die 4 Beine
  • Trab - Schritt Paraden in die 4 Beine
  • Trab - Halt Paraden in die 4 Beine

8. Vorbereiten und/oder Verbessern von bestimmten Dressurlektionen


Diese Art von Übung kontrolliert, ob das Pferd in der Lage ist, elementare Bestandteile einer Lektion auszuführen. Sollte das Pferd Lücken in diesen Basisübungen aufweisen, entwickeln wir Übungen, die ihm diese konkreten Fertigkeiten beibringen.

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Zusammenfassung

Man kann die Ausbildung für das Pferd einfacher und leichter verständlich machen, wenn man es vom Standpunkt des Pferdes aus betrachtet. Überlegen Sie, was Sie dem Pferd aus in biomechanischer Hinsicht abverlangen. Finden Sie heraus, welche elementaren Fertigkeiten Ihr Pferd beherrschen muss und welche elementaren Bewegungen es ausführen können muss, um eine bestimmte Lektion zeigen zu können. Dann bauen Sie ihm eine Treppe aus kleinen Lernschritten, die ihm diejenigen elementaren Fertigkeiten beibringen, die ihm noch fehlen. Versuchen Sie wann immer möglich das Prinzip der Bewegungsökonomie auszunützen, d.h. führen Sie das Pferd auf einen Weg, auf dem die Lektion oder der Übergang, den Sie reiten wollen, dem Pferd unter den gegebenen Umständen als die energiesparendste Variante erscheint.