Sanftheit und Disziplin (Revisited)

Einleitung

Vor etwas mehr als 20 Jahren schrieb ich einen Artikel mit dem Titel “Sanftheit und Disziplin”, der bei vielen meiner Leser sehr beliebt wurde. Ich habe ihn seither nicht mehr angeschaut. Aufsätze zu schreiben ist für mich ein Weg, Informationen und Erfahrungen zu verarbeiten. Manches von dem, was ich schreibe, entwickelt sich zu Newsletter Artikeln oder zu Inhalten für unsere Online Kurse. Und wenn etwas einmal veröffentlicht ist, schaue ich es in der Regel nicht wieder an, sondern wende mich dem nächsten interessanten Thema zu, das mich beschäftigt.

Kürzlich sagte Shana, dass ich diesen alten Artikel noch einmal überarbeiten sollte, weil er so populär war. Wie alle meine Artikel entstand er in einem bestimmten Abschnitt meiner reitereichen Entwicklung. Er markiert den Übergang von dem alten, autoritären Paradigma, mit dem ich aufgewachsen war, zu einer mehr kooperativen Herangehensweise.

In meiner Jugend war die Reitkultur noch in sehr hohem Maße ein Produkt der alten Militärtradition. Gehorsam spielte ein große Rolle. Einer meiner frühen Lehrer erklärte gerne alles im Sinne von “Akzeptanz der Hilfen” und dem “Respekt” des Pferdes für den Reiter und die Hilfen. Ein anderer Lehrer sagte mir: “Wenn du sagst: Spring! Dann darf das Pferd nur fragen: Wie hoch?!” Das war vermutlich typisch für die 1970er, 80er und 90er Jahre.

Eine der tief verwurzelten Überzeugungen der damaligen Zeit war es, dass man glaubte, die Kontrolle über das Pferd zu verlieren, wenn man ihm erlaubte, nein zu sagen oder sich zu weigern, etwas auszuführen, da es dann erkennen würde, dass es gar nichts zu tun braucht, weil es größer und kräftiger ist als ein Mensch und damit unreitbar würde. Die Angst vor dem Kontrollverlust über das Pferd war allgemein relativ weit verbreitet und die Reiter versuchten, sich durch Dominanz “durchzusetzen”.

Der Gedanke, eine Beziehung aufzubauen und mit dem Pferd so zusammenzuarbeiten, dass ihm die Arbeit genug Spaß macht, dass es sich nicht genötigt sieht, nein zu sagen, war nicht wirklich weit verbreitet.

Und die Einstellung, dem Pferd die Wahl zu lassen und ihm zu erlauben, nein zu sagen, wenn es sich nicht wohl fühlte oder wenn es sich überfordert fühlte, fand man nur bei einer Minderheit der Reiter, so weit ich mich erinnere.

Während der 1990er Jahre und danach meldeten sich immer mehr Stimmen, die das alte autoritäre Paradigma in Frage stellten, und so entstand ganz allmählich eine neue Denkweise und eine neue Art, mit Pferden zu arbeiten, die bis in den Mainstream vordrang.


Diktatur vs. Egalitarismus

Ich stellte jedoch fest, dass selbst wenn man der beste Freund des Pferdes sein und es zu nichts zwingen möchte, das es nicht tun will, die Beziehung nicht egalitär sein kann. Aus Sicherheitsgründen ist es wichtig, dass das Pferd vorwärts geht, anhält und wendet, wenn der Mensch es dazu auffordert, sei es am Boden oder unter dem Sattel. Sonst wäre es genauso gefährlich wie ein Auto, bei dem Gaspedal, Bremse oder Lenkrad nicht funktionieren.

Wie lösen wir nun dieses Dilemma? Menschen neigen immer dazu, von einem Extrem ins andere zu fallen. Und so rebellierten manche Reiter gegen die diktatorische Herangehensweise, indem sie gar keine Regeln einhielten und ihrem Pferd keinerlei Gehorsam oder Disziplin abverlangten. Leider ist die vollkommene Abwesenheit von Struktur oder Regeln jedoch auch nicht wirklich gesund. Grenzen und klare Regeln geben dem Pferd Sicherheit, da es dann seine Rolle in der “Herde” kennt und weiss, was von ihm erwartet wird, was erlaubt ist, was verboten ist, usw. Und es fühlt sich von der Herde beschützt.

Ohne dieses zuverlässige, solide Gerüst fühlen sich Pferde oft unsicher. Das kann insbesondere unter dem Reiter zu Scheuen und hohem Stress führen. Diese Pferde sind nicht wirklich glücklich mit ihrem Leben und ihren Reitern.

In der Vergangenheit sind wir manchmal Pferden begegnet, die aufgrund des vollkommenen Mangels an Struktur oder konsequenter Behandlung schwierig oder sogar gefährlich geworden waren.

Tendenziell sind Pferde, die an einfache, klare Regeln und Grenzen gewohnt sind, viel entspannter, glücklicher, sicherer im Umgang und machen mehr Spaß. Wenn sie schon seit dem Fohlenalter mit diesen Spielregeln groß gezogen wurden, sind sie immer leicht im Umgang.

Wir brauchen also zumindest manchmal eine gewisse Hierarchie. Es gibt Situationen, in denen es eine Frage der Sicherheit ist, dass wir Menschen das letzte Wort darüber haben, wo wir hinreiten und was wir tun. Es gibt andere Situationen, in denen wir Kompromisse eingehen oder den Vorschlägen des Pferdes folgen können.

Als Pferde noch als Kriegswaffen eingesetzt wurden, waren sie vierbeinige Soldaten und der Ausgang einer Schlacht hing vom absoluten Gehorsam von Mensch und Pferd ab. Zum Glück verwendet das heutige Militär keine Pferde mehr auf dieselbe Art und Weise. Für die meisten von uns ist Reiten eher eine Freizeitaktivität und wir können es uns leisten, dabei kollaborativ vorzugehen, anstatt ständig auf die Einhaltung einer strikten Hierarchie zu achten.


Hierarchie und Verantwortung

In unserer westlichen Zivilisation betrachten viele Menschen Hierarchien als etwas Negatives, da sie automatisch davon ausgehen, dass die ranghöhere Person die Untergebenen ausbeuten wird. Das muss jedoch nicht unbedingt der Fall sein, da Privilegien auch eine Verantwortung mit sich bringen. Die höher gestellte Person muss sich um die niedriger gestellten kümmern und diese beschützen.

Ich war immer der Meinung, dass wir aufgrund der Tatsache, dass wir das Pferd domestiziert und ihm seine Freiheit genommen haben, auch die Verantwortung dafür übernommen haben, uns so gut wir nur können um unsere Pferde zu kümmern und sie vor Schaden zu beschützen.

Das bedeutet, dass:

  • Wir nichts von ihm verlangen, was es nicht leisten kann.

  • Wir keine unnatürlichen Bewegungen von ihm verlangen, die ihm schaden würden.

  • Wir es nicht zu früh anreiten und dass wir es in der Arbeit nicht müde machen.

  • Wir das Pferd die Geschwindigkeit der Ausbildungsfortschritte bestimmen lassen.

  • Wir ihm alles so erklären, dass es versteht, was wir von ihm wollen und dass wir es nicht bei der Ausführung behindern.

(Die Liste kann wahrscheinlich fortgesetzt werden)

Dann hat es keinen Grund, nein zu uns zu sagen.

Wenn man alle Punkte dieser Liste eingehalten hat und das Pferd sich dennoch stark gegen eine Anforderung wehrt, die eigentlich fair oder relativ leicht zu sein scheint, dann ist es wahrscheinlich, dass ein undiagnostiziertes Schmerzproblem vorliegt. In dem Fall sollte man versuchen, mit Hilfe einer Tierärztin oder anderer Therapeuten herauszufinden, worum es sich handelt.


Kollaboration und Kooperation

Anstatt sich auf die alten Befehlsstrukturen zu verlassen, ist es viel eleganter und angenehmer für Pferd und Reiter, wenn man die Dinge wann immer möglich so präsentiert, dass das Pferd sie selbst tun will, weil sie ihm Spaß machen oder interessant erscheinen, oder weil sie eine Erleichterung zu bringen scheinen. Mit anderen Worten, wir sollten also versuchen eine Situation herbeizuführen, in der die Lektion oder der Übergang, den wir reiten wollen, zur Idee des Pferdes wird.

Man kann dem Pferd nämlich eine Leiter aus kleinen Lernschritten bauen, bei der ihm die beabsichtigte Lektion oder der Übergang als logischer nächster Schritt erscheint, sodass es von selbst die richtige Schlussfolgerung zieht und den Übergang freiwillig anbietet. Es ist für das Pferd so ähnlich wie das Lösen einer mathematischen Gleichung für uns.

Das funktioniert äußerst gut bei Übergängen, fliegenden Wechseln und der Piaffe. Je mehr man diese Denkweise ausprobiert, desto mehr Situationen findet man, in denen man sie anwenden kann.

Man kann dabei das Prinzip der Bewegungsökonomie verwenden, welches besagt, dass Pferde in der Regel versuchen, alle gestellten Aufgaben möglichst energiesparend auszuführen und daher jeweils die leichteste, am wenigsten anstrengende Variante wählen. Oft ist es möglich, eine Übungsabfolge so aufzubauen, dass die beabsichtigte Lektion dem Pferd leichter erscheint als das, was es davor getan hat, sodass es die neue Lektion oder den neuen Übergang mit Freuden ausführt.

Beispielsweise wird das Pferd in bestimmten Übungen im Schritt seine Fußfolge diagonalisieren, da der diagonale Zweitakt ökonomischer ist als der Viertakt des Schrittes. Daraus kann man einen Weg zu halben Tritten und zur Piaffe entwickeln. Oder man kann daraus vorwärts in den Trab reiten.

Versammelt man den Trab oder Galopp so stark wie das Pferd es verkraftet, dann wird es dankbar die Tritte verlängern, weil es sich wie eine Erleichterung anfühlt.

Reitet man eine Passade in der zweiten Ecke der langen Seite, muss das innere Hinterbein einen relativ großen Anteil der Körpermasse stützen, und wenn man daraus unmittelbar in eine Traversale zurück zur langen Seite übergeht, dann erscheint dem Pferd die Traversale im Vergleich wesentlich leichter als die Passade.

Präsentiert man dem Pferd die nächste Lektion als Erleichterung, wird es sie meist gerne ausführen, wohingegen es wahrscheinlich weit weniger enthusiastisch sein wird, wenn man sie von einem viel leichteren Ausgangspunkt beginnen will.

Das Prinzip der Bewegungsökonomie führt manchmal auch zu Mißverständnissen, weil das Pferd eine leichtere Alternative zu dem sucht, was man gerade von ihm verlangt, und es sich die Arbeit erleichtern will. Diese Situations enthalten Gelegenheiten für die Reiterin, da wir dem Pferd das Ausweichen zum Schein erlauben können, um es dann aber zur Gymnastizierung des Pferdes zu verwenden.

Gibt man zum Beispiel eine Galopphilfe und das Pferd springt im Kontergalopp an, könnte man entweder zum Schritt oder Trab zurückkehren und von vorne anfangen, oder man könnte den Kontergalopp annehmen, aber auf derselben Hufschlaglinie bleiben und es dem Pferd überlassen, ob es die Wendungen im Kontergalopp nehmen will, oder ob es lieber umspringt oder zum Schritt oder Trab zurückkehrt. Dadurch erhält das Pferd eine aktive partnerschaftliche Rolle und es hilft ihm, sein Körpergefühl und seine Koordination zu verbessern.

Manchmal weichen Pferde in höhere Gangarten aus, wenn die Arbeit anstrengender wird. Reitet man eine Übung im Trab und das Pferd galoppiert darin an, könnte man den Gangartwechsel ignorieren, die Übung im Galopp fortsetzen und nur darauf bestehen, dass das Pferd die gewählte Linie einhält. Das Pferd wird entweder dazu in der Lage sein, oder es wird feststellen, dass die ursprüngliche Gangart doch weniger anstrengend war und wieder durchparieren. Das ist eine win-win Situation.

In diesen Situationen könnte man dem Pferd sagen: “Wenn Du diese Übung in einer höheren Gangart ausführen willst, dann soll mir das recht sein. Aber ich mache die Übung deshalb nicht leichter und ich möchte, dass Du sie korrekt ausführst.” Dann kann das Pferd wählen, ob es bei seiner Idee bleibt, oder ob es lieber zur ursprünglichen Idee der Reiterin zurückkehrt. Beides ist gymnastisch gut, das Pferd fühlt sich als Partner, weil wir ihm die Wahl gelassen haben und wir sagen ihm nicht, dass es einen Fehler gemacht hat.


Abschluß

Wenn man diese psychologischen Strategien anwendet, die ich oben beschrieben habe, lässt man das alte “Befehl und Gehorsam” Paradigma hinter sich, bei dem der “Gehorsam” und der “Respekt” des Pferdes für die Reiterhilfen die zentrale Rolle spielt. Die Ausbildung wird dadurch viel spielerischer und interessanter. Konflikte können weitestgehend vermieden werden und man wird, wenn überhaupt, dann nur sehr selten in eine Situation geraten, in der man das Pferd “disziplinieren” muss und die Beziehung zwischen Pferd und Reiter wird viel reichhaltiger und erfüllender für beide.