Wir wissen nicht, was wir nicht wissen

“Wissen ist wie wenn man in einem dunklen Zimmer sitzt. Du weißt nicht, daß es dunkel ist und es stört dich daher auch nicht. Aber sobald du ein Streichholz anzündest, merkst du, wie dunkel es vorher war. Dieses Streichholz ist nun ein bisschen Wissen. Je größer die Flamme ist, je mehr Licht du hast, je mehr die Dunkelheit zurückgedrängt wird, desto größer ist dein Wissenshorizont. Aber es zeigt dir auch, wie viel Dunkelheit es noch dahinter gibt. “ (Franz Mairinger, 1983)

Einleitung

Wir wissen nicht, was wir nicht wissen. Das kann es schwierig machen weiter zu kommen, weil wir eventuell nicht wissen, woran wir arbeiten sollen und weil wir bestimmte Fehler nicht bemerken, die uns unterlaufen.

Es gibt allerdings Strategien, mit deren Hilfe wir einige der Dinge entdecken können, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen. Der schnellste und leichteste Weg besteht darin, bei einem guten Lehrer Unterricht auf einem weit ausgebildeten Lehrpferd zu nehmen. Gemeinsam lassen sie uns sehr schnell wissen, woran es fehlt und woran wir arbeiten müssen. Leider ist das für die meisten Reiter keine realistische Option.

Strategien

Doch selbst wenn man alleine arbeitet, gibt es Dinge, die man tun kann, um etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Ein Forschungsgebiet, auf dem man Dinge entdecken kann, die man vorher noch nicht wusste, ist der Sitz. Jede Veränderung des Sitzes wird vom Pferd dadurch beantwortet, dass es entweder ein wenig besser oder ein wenig schlechter wird. Das ist ähnlich wie bei dem Kinderspiel, bei dem ein Kind an einen Gegenstand denkt und ein anderes Fragen dazu stellt, um den Gegenstand zu erraten. Das erste Kind antwortet mit “wärmer”, wenn sich die Frage dem Gegenstand nähert und mit “kälter”, wenn sie in die falsche Richtung führt. Wenn wir dem Pferd Fragen stellen, dann leitet es uns durch seine Antworten.

Wir können bestimmte Fragestellungen systematisch mit Hilfe des Pferdes erforschen:

Wir können unsere Beckenposition in allen drei Dimensionen verändern. Durch ein allmähliches vorwärts (Hohlkreuz) und rückwärts (runder Rücken) Kippen des Beckens können wir herausfinden, wo sich die neutrale/senkrechte Stellung befindet. Sie werden feststellen, dass es eine bestimmte Beckenposition gibt, in der sich das Pferd am wohlsten fühlt. In dieser Stellung fühlt sich das Pferd am rundesten, weichsten und zufriedensten an. Je weiter man sich von dieser Position entfernt, desto steifer, härter und unbequemer wird sich das Pferd anfühlen, da man seine Balance  und seinen Gang beeinträchtigt.

Da unser Körpergefühl uns oft anlügt, kann es vorkommen, dass diese Neutralstellung an einer anderen Stelle liegt, als wir dachten. Das Pferd wird uns jedoch zu ihr hinführen. Falls wir von Natur aus zum Hohlkreuz neigen, wird es sich wahrscheinlich so anfühlen, als ob wir unseren Rücken etwas runden müssen, um in die Neutralstellung zu kommen. Wenn wir von Natur aus eher zum runden Rücken neigen, fühlt es sich wahrscheinlich so an, als ob wir ein leichtes Hohlkreuz machen müssen.

Man kann dieselbe Strategie auf die Rotation des Beckens anwenden. Wenn Sie eine Hüfte vor- und die andere zurücknehmen, wird das Pferd Ihnen zeigen, welche Rotation zur gerittenen Linie passt. Diese Stellung variiert natürlich zwischen geraden und gebogenen Linien, Zirkeln und Volten. Passt die Beckenrotation zur gerittenen Linie, wird es relativ leicht sein, die Pferdehufe auf dieser Linie zu erhalten und eine seitliche Biegung im Körper herzustellen. Je mehr sich die Beckenposition von dieser passenden Rotation entfernt, desto schwieriger wird es sein, die Linie einzuhalten und das Pferd zu biegen. Sie werden überproportional große Schenkel- und Zügelhilfen benötigen, um das Pferd auf der Linie zu halten und zu biegen.

Unser Körpergefühl kann auch hier trügen. Unter Umständen müssen wir unser Becken deutlich mehr drehen, als wir dachten, oder wir müssen es vielleicht sogar in die andere Richtung drehen, als wir dachten.

Sie können Ihre Gewichtsverteilung auf dieselbe Weise testen, indem Sie Ihr Gewicht von einem Gesäßknochen zum anderen fließen lassen. Es wird eine bestimmte Gewichtsverteilung geben, die optimal zur gerittenen Linie und zur Balance bzw. dem Grad der Geraderichtung von Pferd und Reiter passt.

Ein Faktor, der hier eine wichtige Rolle spielt, ist, dass alle Pferde und alle Reiter mehr oder weniger schief und asymmetrisch sind und wir eine ausbalancierte, gerade gerichtete Einheit aus den beiden asymmetrischen Bestandteilen formen müssen. Daher unterscheidet sich die richtige Sitzposition und Gewichtsverteilung manchmal von der allgemeinen Buchweisheit. Die traditionellen Lehrbücher gehen immer davon aus, dass Pferd und Reiter beide gerade gerichtet und symmetrisch sind - und das kann zu negativen Resultaten und Frustrationen führen.

Sie können die Gewichtsverteilung auch in Bezug auf die Größe der Unterstützungsfläche testen. Fühlt sich das Pferd wohler, wenn Sie Ihr Gewicht über eine größere Fläche verteilen, die die Innenflächen der Oberschenkel und Knie mit einbezieht, oder fühlt es sich wohler, wenn das ganze Reitergewicht auf den Gesäßknochen oder dem Beckenboden ruht?

Als nächstes können Sie Ihre Oberkörperposition testen, indem Sie ihn wie einen Joystick leicht vorwärts und rückwärts, nach rechts und links bewegen, bis Sie die Position finden, in der sich das Pferd am rundesten und losgelassensten anfühlt. Diese Haltung hängt wiederum von der gerittenen Linie und Lektion ab, sowie davon, ob Sie sich auf der hohlen oder der steifen Seite des Pferdes befinden.

Manchmal bemerken wir nicht, dass wir angefangen haben, mit unseren Schenkeln zu klammern oder dass wir mit unseren Händen rückwärts einwirken. Daher ist es sinnvoll, uns ab und zu selbst zu überprüfen. Sie können herausfinden, wie viel Beinkontakt oder Schenkeldruck Sie einsetzen,  indem Sie die Muskeln auf der Außenseite Ihrer Oberschenkel etwas anspannen, den Femur im Hüftgelenk beidseitig einwärts drehen und beide Oberschenkel gleichzeitig für ein bis zwei Tritte ein wenig vom Pferdekörper abheben. Dann entspannen Sie die Beinmuskulatur und lassen Ihre Beine hängen. Der Kontrast zwischen der ursprünglichen Beinposition und den leicht abgehobenen Oberschenkeln zeigt Ihnen, ob das Bein nur mit seinem eigenen Gewicht herabhing oder ob Sie  zusätzlichen Druck ausgeübt hatten. Verbessert sich das Pferd, wenn Sie Ihre Oberschenkel anheben, deutet dies darauf hin, dass der Beinkontakt zu stark war.

Ähnlich verhält es sich mit der Anlehnung. Wir bemerken nicht immer, wenn unsere Handgelenke steif werden, oder wenn wir anfangen mit den Zügeln rückwärts zu wirken, anstatt nur das Gewicht mit der Hand zu empfangen, das das Pferd selbst hinein legt. Aus diesem Grund wurde das “Überstreichen” erfunden und in einige Dressuraufgaben integriert. Es besteht auf einer völligen Aufgabe der Zügelverbindung, indem man für einige Tritte mit einer oder beiden Händen vorwärts in Richtung Pferdemaul nachgibt. Anschließend stellt man die Verbindung behutsam und ohne Ruck im Maul wieder her. Verbessert sich das Pferd während des Überstreichens, war die Anlehnung vorher wahrscheinlich zu schwer oder zu tot. 

Die gleiche Idee kann man auf den Sitz und das Gewicht übertragen. Verteilt man das Gewicht über eine größere Fläche, reduziert sich der Druck, der von oben auf der Wirbelsäule lastet und verteilt sich stattdessen großflächiger über den Brustkorb des Pferdes. Zusätzlich kann man die Aufwölbung des Pferderückens für ein paar Tritte unterstützen, indem man den Schwung der Pferdebewegung für ein paar Tritte ausnützt, um eine Art Vakuum unter dem Gesäß zu erzeugen, das vom Pferderücken ausgefüllt werden soll. Hebt das Pferd seinen Rücken etwas höher, erweitert es seinen Brustkorb und wird es insgesamt runder, wenn man seinen Sitz leichter macht, ist es ein Zeichen dafür, dass man vorher zu schwer oder zu unbeweglich saß.

Was das Pferd angeht, kann man die Parameter des Ganges untersuchen, indem man das Tempo und die Trittlänge variiert, bis man diejenigen “Einstellungen” gefunden hat, mit denen sich das Pferd ausbalancieren und loslassen kann.

Man kann darüberhinaus den Energieaufwand des Pferdes erhöhen und verringern, um diejenige Energiemenge zu ermitteln, in der das Pferd am besten arbeitet.
Man kann auch mit der Ausrichtung der Pferdehufe auf die Linie experimentieren, indem man die Schultern und die Hinterhand ein wenig nach rechts und links weichen läßt.

Zusammenfassung

Wenn Sie allein arbeiten, können Sie bestimmte Fragestellungen gemeinsam mit Ihrem Pferd erforschen und sich von Ihrem Pferd zeigen lassen, wie es geritten werden will. Jedes Pferd ist anders, jede Situation ist anders und die Präferenzen der Pferde verändern sich im Laufe der Zeit, wenn sie sich weiter entwickeln und in höhere Klassen aufsteigen. Daher sollte man diese Fragestellungen immer wieder neu mit dem Pferd untersuchen, damit man sich an die veränderten Bedürfnisse des Pferdes anpasst.