Schwierige Pferde

Als ich diese Woche nach Vorschlägen für den nächsten Facebook Live Event gefragt habe, kamen erstaunlich viele Anfragen für Pferde mit schwierigem Temperament und schwierigem Gebäude. In dieser Hinsicht scheint ein besonderer Bedarf zu bestehen, was eigentlich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass sich die Qualität der Pferdezucht in den letzten hundert Jahren stark verbessert hat. Es ist aber sehr interessant, dieser Fragestellung nachzugehen.


Was macht ein Pferd schwierig?

In den meisten Fällen besteht die Schwierigkeit wahrscheinlich darin, dass das Pferd sich “an keine Regel hält”, die der Reiter gelernt hat. Die Standardrezepte der Reitlehren funktionieren alle nicht bei diesem Pferd. Es hat kein einziges Buch gelesen und weiss anscheinend nicht, wie man sich als Pferd zu verhalten hat. Zusätzlich dazu sind schwierige Pferde in der Regel entweder zu sensibel und explosiv, oder zu phlegmatisch und verhalten. Ihr Charakter und/oder Temperament sind also problematisch.

Diese Pferde zeigen sehr schnell die engen Grenzen der prozeduralen Reitmethoden, die bei allen Pferden gleich vorgehen wollen, indem sie vorschreiben, mit allen Pferden dieselben Übungen in derselben Reihenfolge und in der selben Art und Weise auszuführen, ähnlich wie ein Kochrezept genaue Angaben darüber macht, welche Zutaten in welcher Menge und in welcher Reihenfolge verwendet werden sollen.  

Eine an Prinzipien orientierte Methode jongliert dagegen mit einer Vielzahl von Variablen undbiomechanischen Kausalitäten. Sie beachtet, wie die einzelnen Körperteile des Pferdes gebaut sind, wie sie mit einander arbeiten, wie sie einander gegenseitig beeinflussen, welche Körperteile kräftig sind, welche schwach sind, welche beweglich sind, welche steif sind, welche Verbindungen leicht herzustellen sind und welche Gelenk- und Muskelverbindungen den Energiefluss behindern. Für den Reiter bedeutet das einen erheblich größeren gedanklichen Aufwand, aber die Erfolgschancen sind dafür wesentlich höher, weil man gemeinsam mit dem Pferd ein massgeschneidertes Programm entwerfen kann, das alle seine Besonderheiten berücksichtigt.


Warum ist ein Pferd schwierig?

In der klassischen Literatur haben verschiedene Autoren, von Ernst Friedrich Seidler (1846) über Otto von Monteton (1877) bis hin zu Nuno Oliveira, immer wieder festgestellt, dass leichtrittige Pferde mit gutem Temperament meistens auch ein gutes Exterieur besitzen, während schwierige Pferde oft gravierende Exterieurmängel aufweisen, die dazu führen, dass die Reiterlast ihnenUnbehagen oder sogar Schmerzen verursacht. Das leuchtet auch durchaus ein. Ein kräftiges Pferd mit gutem Gebäude wird den Reiter relativ leicht tragen können und die Anforderungen, die der Reiter stellt, werden nicht allzu unbequem sein. Pferde mit schwachem Rücken oder schwacher Hinterhand, sowie Pferde, deren Hinterbeine oder Genick exterieurbedingt starr und unbeweglich sind, werden die Arbeit unter dem Reiter relativ schnell als unangenehm oder schmerzhaft empfinden.

Weitere Faktoren, die ein Pferd schwierig machen können, sind ein schlechtes Körpergefühl, schlechte Balance, schlechte Koordination, eine besonders niedrige Schmerzschwelle, sowie eine traumatische Vorgeschichte.


Wie gehe ich vor?

Noch wichtiger als bei gewöhnlichen Pferden ist die Beziehung zwischen dem schwierigen Pferd und seinem Menschen. Man kann oft beobachten, dass Reiter, die technisch nicht besonders weit fortgeschritten sind, bei schwierigen Pferden viel größere Erfolge erzielen als Reiter höherer Klassen. Der Grund liegt in der Chemie. Wenn Pferd und Reiter ein gutes Verhältnis zu einander haben, dann gelingt auch die Zusammenarbeit. Stimmt die Chemie dagegen nicht, dann nützt auch das größte technische Wissen und Können nichts. Hier müsste man also anfangen: beim Aufbau einer guten, tragfähigen Beziehung.

Schwierige Pferde erfordern vom Reiter ein besonderes Einfühlungsvermögen und besondere geistige Flexibilität. Man muss das Pferd genau studieren und versuchen, das Gebäude zu erfassen, und zwar nicht nur im Halten, sondern in der Bewegung. Beobachten Sie, wie die einzelnen Körperteile mit einander verbunden sind, wie sie zusammen arbeiten, wie die Energie durch den Körper fließt und wie die Impulse der Hinterbeine von der Wirbelsäule nach vorne weitergeleitet werden.

  • Fallen irgendwelche Besonderheiten oder Abnormitäten im Bewegungsablauf auf?
  • Gibt es Unregelmäßigkeiten in den Bewegungen der Vorderbeine oder Hinterbeine?
  • Scheinen Vorderbeine und Hinterbeine mit einander zu kommunizieren, oder scheinen sie sich getrennt von einander zu bewegen?
  • Gibt es Gelenke, die hypermobil wirken?
  • Gibt es Gelenke, die sich nicht zu bewegen scheinen?
  • Gibt es Muskeln, die hart und steif aussehen oder die sich beim Darüberstreichen mit der Hand hart anfühlen?
  • Wie reagiert das Pferd auf Anfragen des Reiters? Erscheint es willig oder unwillig? Scheint es verwirrt von der Frage? Reagiert es mit Angst oder Nervosität? Reagiert es zornig?
  • Gibt es in bestimmten Situationen heftige Reaktionen? Was sind die konkreten Begleitumstände?
  • Wie gut ist sein Körpergefühl entwickelt?
  • Wie gut ist sein Balanciervermögen entwickelt?
  • Wie gut ist sein Koordinationsvermögen entwickelt?


Diese Dinge lassen sich zum Teil schon beim Freilaufen oder an der Longe beobachten. Andere kann man besser beim Reiten beurteilen, oder wenn man einen anderen Reiter auf dem Pferd beobachtet. Bei schwierigen Pferden ist man übrigens oft am effektivsten, wenn man ein Team bildet mit einem Reiter auf dem Pferd und einem erfahrenen Ausbilder am Boden, der sich als Außenstehender ein objektiveres Bild verschaffen kann. Dadurch kombiniert man das Gefühl im Sattel mit dem visuellen Eindruck und zwei Gehirnen. Das erlaubt oft, die Ursache eines Problems schneller zu ermitteln und schneller eine Lösung zu finden, als wenn ein Reiter auf sich allein gestellt ist.

Man kann durch gezielte gymnastische Übungen diesen Fragestellungen nachgehen und anhand der Reaktionen des Pferdes eine Diagnose erstellen. Hat man erst einmal eine Diagnose, kann man an den Schwachstellen, die sich herauskristallisiert haben, arbeiten, um zu überprüfen, ob die Diagnose richtig war und um dem Pferd mit der Auswahl geeigneter weiterer gymnastischer Übungen zu helfen.
Alle Übungen haben diagnostische Funktionen, d.h. sie zeigen dem Reiter, wo das Pferd unbeweglich oder empfindlich ist. Sie besitzen gleichzeitig auch eine therapeutische Wirkung, d.h. sie mobilisieren die steifen und kräftigen die schwachen Körperteile.

Als Bestandteil der Diagnostik kann man durch gezielte Übungen und Hilfen untersuchen, ob es besonders schmerzempfindliche Körperteile gibt, die heftige Reaktionen auslösen, wenn der Reiter sie mit seinen Hilfen “anfassen” möchte. Dazu gehören sehr oft das Genick bzw. die Ganasche, der Rücken und die Hinterhand.

Genick und Ganasche kann man durch Biegeübungen im Sattel oder am Boden testen. Die Empfindlichkeit des Rückens kann man sehr gut durch Veränderungen des Sitzes testen. Beispielsweise kann man das Gewicht über eine größere oder kleinere Fläche verteilen. Läßt man sein Gewicht auf der gesamten Fläche zwischen den Gesäßknochen und den Innenseiten der Knie ruhen, wird der Rücken weniger belastet. Das Gewicht fließt mehr seitlich um den Brustkorb herum und es lasten weniger kg/cm2 auf dem Pferderücken. Konzentriert man das Gewicht mehr auf die Gesäßknochen, ist die Unterstützungsfläche wesentlich kleiner, sodass wesentlich mehr kg/cm2 auf dem Pferderücken lasten. An der Reaktion des Pferdes erkennt man sehr leicht, bei welcher Sitzvariante es sich am wohlsten fühlt.

Die Beweglichkeit und Empfindlichkeit der Hinterhand kann man sehr gut durch Seitengänge, Vorhandwendungen in der Bewegung, Hinterhandwendungen, ganzen Travers, Rückwärtsrichten, halbe und ganze Paraden testen.

Besonders heftige negative Reaktionen sind oft ein Hinweis auf Schmerzen. Besteht ein solcher Verdacht, sollte man einen Tierarzt, Osteopathen oder Physiotherapeuten zu Rate ziehen und evtl. in Teamarbeit das Problem eingrenzen und Therapiemöglichkeiten gemeinsam besprechen. Auch die Kontrolle des Sattels und der Zähne hilft zumindest diese Faktoren bei der Ursachenforschung auszuschließen.

Sehr wichtig ist der richtige Aufbau der Arbeit. Bei besonders schwierigen Pferden ist es meistens keine gute Idee, sich auf das kalte Pferd drauf zu setzen und los zu reiten. Man erleichtert sowohl dem Pferd als auch sich selbst die Arbeit, wenn man bei jedem Pferd den optimalen Aufbau findet. Ich würde dabei experimentieren mit frei laufen Lassen, Longieren, Doppellongenarbeit, Langzügelarbeit und Handarbeit. Bei manchen Pferden hilft es, wenn man das Pferd mit einer dieser Optionen aufwärmt. Bei anderen gibt es eine bestimmte Kombination, die das Pferd besonders gut auf das Reitergewicht vorbereitet. Ziel dieser Aufwärmarbeit ist es, ein gewisses körperliches und psychisches Gleichgewicht herzustellen, eine gewisse innere Sammlung zu erzeugen und die Muskeln aufzuwärmen, bevor das Reitergewicht dazu kommt. Das ist auch bei “normalen” Pferden oft empfehlenswert, aber bei besonders schwierigen Pferden ist es eigentlich unumgänglich.


Zusammenfassung

Das waren also ein paar Gedanken zur Arbeit mit schwierigen Pferden. Sehr wichtig ist, dass man nicht dogmatisch nach irgendwelchen Lehrbüchern verfährt, sondern mit Gefühl und Überlegung auf das einzelne Pferd eingeht. Gerade die Intuition ist hier oft ein zuverlässigerer Führer als technisches Wissen. Fragen an das Pferd stellen, die Reaktionen genau beobachten, gezieltes Testen von bestimmten Fähigkeiten und einzelnen Körperteilen wird immer wieder neue Informationen zutage fördern, die dem Ausbilder helfen, die nächsten Schritte auszuwählen. Man wird nicht vermeiden können, bestimmte Umwege zu gehen und Sackgassen zu verfolgen, bis man die richtige Lösung gefunden hat. Das gehört sozusagen dazu. Auch wenn eine Übung oder eine Hilfe nicht zum Erfolg führt, kann man daraus wichtige Erkenntnisse gewinnen und etwas lernen. Man muss auch mit relativ regelmäßigen Rückschlägen rechnen, vor allem wenn es sich um traumatisierte Pferde handelt, da sie genauso wie Menschen mit PTSD Panikattacken und Flashbacks erleben, die unter Umständen für den neuen Reiter völlig überraschend kommen. Die Häufigkeit und Intensität dieser Vorfälle sollte im Laufe der Zeit abnehmen. Aber sie erfordern sehr viel Geduld und auch Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten von Seiten des Reiters, da diese Rückschläge nicht unbedingt bedeuten, dass man etwas falsch gemacht hat. In diesen Fällen ist der Reiter nicht nur Physiotherapeut, sondern auch Psychotherapeut seines Pferdes.