Geschichte der Aufrichtung aus der Tiefe

Wenn man die Entwicklung der Reitkunst über längere Zeiträume verfolgt, stellt man in vielen Bereichen eine Pendelbewegung fest. Es gibt Modeerscheinungen, die bis zu einem gewissen Extrem getrieben werden. Dann ändern sich die Meinungen und das Pendel schwingt in die entgegengesetzte Richtung, wieder bis zu einem Extrem. Obwohl diese Entwicklungen oft auf richtigen Beobachtungen in Teilbereichen beruhen, sind die Extreme meist nicht zielführend und bringen oft gesundheitliche Nachteile für das Pferd mit sich. Es ist immer gefährlich, wenn man eine Beobachtung in einem Detail der Ausbildung verabsolutiert, zum einzigen Bewertungskriterium macht und dann auf die Spitze treibt, nach dem Motto: mehr ist besser.

Ein Beispiel solcher Extreme sind zwei diametral entgegengesetzte Einstellungen zum Vorwärts-abwärts Reiten. Am einen Ende des Spektrums befinden sich diejenigen Reiter, für das Vorwärts-abwärts Dehnen das höchste Ziel der Dressurausbildung und die Antwort auf alle Probleme darstellt. Viele davon glauben, dass man in der Pferdeausbildung nichts anderes machen darf, bis das Pferd sich vorwärts-abwärts dehnt. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich diejenigen, die jegliches vorwärts-abwärts kategorisch ablehnen, weil es ihrer Meinung nach das Pferd auf die Vorhand bringt und die Beine ruiniert.

Anhand der klassischen Literatur kann man nachvollziehen, wie es zu diesen Ansichten kam. Das möchte ich hier anhand einiger Zitate anschaulich machen. So weit ich sehen kann, ist der Ausgangspunkt der Entwicklung eine Beobachtung von Dupaty de Clam (1777). Er ist der erste mir bekannte Autor, der den Pferdehals und -kopf als einen Hebel bezeichnet, der durch Aufrichten die Vorhand entlasten kann. Er schreibt dazu: “Der Hals ist der obere Arm des Hebels, der durch sein Spiel das Gewicht des Pferdes vorne in die Höhe hebt.

Die Bildung des langen Halses wird also die beste sein, weil die Länge des Hebelarmes seine Kraft vermehrt.” (deutsche Übersetzung von Premierleutnant von Klatte, 1826, 1. Bd., 213)

Dieser Vergleich des Pferdehalses mit einem Hebel wurde zu einem zentralen Bestandteil der deutschen Reittheorie des 19. Jahrhunderts. Alle namhaften deutschen Autoren arbeiten mit der Vorstellung, dass einerseits eine gebeugte Hinterhand zur Aufrichtung der Vorhand führt und dass man andererseits durch Aufrichten des Halses die Hinterhand belasten und beugen kann.

Diese Vorstellung führte nun anscheinend dazu, dass man bereits Remonten in eine sogenannte “hohe Aufrichtung” brachte, bei der der Hals nahezu senkrecht und die Nase nahezu waagerecht war.

Ernst Friedrich Seidler, 1846, 95 berichtet dazu: “Auf manchen Manegen hat man das Prinzip, gleich beim ersten Anreiten das Pferd mit Kopf und Hals aufzurichten und in hohe Stellung zu nehmen, auch manche Werke, die über Pferdedressur handeln, lehren dies; so liest man unter Anderem häufig: ‘Aufrichten ist die erste Lection, die wir mit dem Pferde vorzunehmen haben; sie begründet zuerst das Gleichgewicht.’ Doch diese Lehre bringt der Pferdedressur sehr vielen Schaden, denn ein solches früheres Heraufarbeiten des Halses und Kopfes, bevor das Pferd zwanglos mit dem Reiter fortgehen kann, ist bei Pferden, die von einer regelrechten Bauart nur einigermaßen abweichen, die Ursache aller Difficilität und Widersetzlichkeit, …”

Auf den folgenden Seiten fährt Seidler fort: “Nach Prinzipien älterer Zeit glaubte man die Gleichgewichtsstellung dadurch herbeizuführen, daß man zuvörderst die Nase des Pferdes hoch heraufhob und mit beinahe waagerechter Kopfstellung mit dem Oberhauptbein den Hals hoch herauf- und zurückarbeitete; doch vieljährige Erfahrungen stellten dieses Verfahren nicht allein als weniger zweckmäßig, sondern als nachtheilig heraus, denn, ungeachtet die Nase des Pferdes höher kam, so blieb die Körperlast doch vorhängend, die Hinterfüße traten nicht nach, sie steiften sich, die Vorderbeine wurden struppirt, Hirschhälse sah man hervordrücken, welche wieder Veranlassung zu unsteter Kopfstellung gaben.”

Man kann sich vorstellen, welchen immensen Schaden das extreme Aufrichten bei jungen Pferden angerichtet haben muss, deren Rücken und Hinterhand dazu in keinster Weise vorbereitet waren. Aufgrund dieser Beobachtungen kam Seidler zu der Überzeugung, dass es besser wäre, wenn man das Pferd zuerst in der Haltung reitet, in der es seinen Kopf von selbst ohne Anstrengung senkrecht hängen lassen kann. Diese ist natürlich viel niedriger als die “hohe Aufrichtung”. Er empfiehlt daher (1837, 54): “…, bei der Stellung, in welcher der Kopf ohne Zwang senkrecht hängt, erlangen wir zuerst die gute Anlehnung. Beginnen wir mit derselben die Dressur und steigern von hier ab die Erhebung des Halses. Oftmaliges Herauslassen aus gesteigerter Stellung, oftmalige Erneuerung derselben, öftere Erholung übt und fügt diese Theile, und erhält das Pferd unserer Einwirkung geneigt.”

Daraus entwickelte er das Verfahren der “Aufrichtung aus der Tiefe” (1846, 110f.): “Die Anhänger der Aufrichtung aus der Tiefe reiten erst das Pferd natürlich frei fort, suchen dann die Nase in horizontaler Linie zum Körper herbeizuholen, über der Ganaschenrundung dem Genick gleich eine mäßige Biegung zu geben und steigern durch die Ganaschenanlage und mittelst Genickbiegung erst die Erhebung des Halses, nehmen später erst den Rücken und dann die Hinterhand in Anspruch; sie bewahren die hohe Aufrichtung beinahe bis zuletzt. - Die Pferde zeigen sich bei dieser stufenweisen Steigerung zufrieden, und ihre Gliedmaßen bleiben geschont.”

Zum Abschluß dieses Gedankenganges schreibt Seidler: “Der Nachtheil, den die hohe Aufrichtung bei der Dressur des Kampagnepferdes herbeiführt, veranlaßte mich zur Herausgabe des ersten Theiles dieses Werkes.”

Seidler’s Vorgehensweise, das Pferd zuerst in einer niedrigeren Kopf- und Halshaltung durchs Genick zu reiten und die Aufrichtung nur allmählich zu steigern, in dem Maße, wie die Hinterhand und der Rücken kräftiger wurden, war erheblich pferdefreundlicher als die alte Methode der “hohen Aufrichtung”. Aus Seidler’s “Aufrichten aus der Tiefe” entwickelte sich dann vermutlich allmählich die Forderung, dass das Pferd die Anlehnung in der Tiefe suchen solle, sowie das vorwärts-abwärts Dehnen.

Ein Jahrhundert nach Seidler’s erstem Buch erscheint dann - für viele vielleicht überraschend - in einem Vortrag Hans von Heydebreck’s (1935, 17) die Aussage: “Es gibt vielleicht keinen Grundsatz in der Reitlehre, dessen mißverständliche Anwendung mehr Unheil angerichtet und der Sache mit dem dadurch hervorgerufenen Widerspruch mehr Schaden zugefügt hat, als die Forderung, daß das Pferd den Zügel in der Tiefe suchen solle.”

Das deutet darauf hin, dass Seidler’s ganz vernünftige Idee immer extremer ausgelegt wurde, bis sie schließlich über das Ziel hinaus schoss. Reitet man nämlich immer nur geradeaus und “vorwärts-abwärts” in der Hoffnung, dass sich das Pferd irgendwann “an die Hand herandehnen” wird, fällt es immer mehr auseinander, wird im ganzen Körper immer steifer, der Rücken hängt durch, die Kruppe wird hochgedrückt und es geht permanent auf der Vorhand. Je länger das Pferd in dieser Haltung verbringt, desto schwieriger wird es, das Pferd zusammenzustellen, durchs Genick und über den Rücken zu reiten und wieder geschmeidig und durchlässig zu machen.

Man muss also immer versuchen, den Grad der Zusammenstellung und Aufrichtung zu finden, der dem Gebäude und dem Ausbildungsstand des Pferdes entspricht. Man darf bzw. muss die Zusammenstellung und die Aufrichtung auch immer wieder verändern, sodass die Belastung der verschiedenen Muskelgruppen nicht statisch ist, sondern dass Arbeitsphasen mit Erholungsphasen, Beugung und Streckung der Muskeln mit einander abwechseln, um eine Überforderung der Muskulatur zu vermeiden.