Geistige Flexibilität

“Die Regel, die wichtiger ist als alle anderen, ist die, dass man präsent sein muss, bereit das zu sehen, was man vor Augen hat und bereit etwas zu verändern, wenn das, was man tut, nicht funktioniert.” - Terrence Real

Beim Reiten verwenden wir oft viel Zeit und Energie darauf, die Geschmeidigkeit des Pferdekörpers zu verbessern und zu erhalten. Wir sprechen darüberhinaus auch von der Wichtigkeit der Geschmeidigkeit des Reiterkörpers.

Was oft nicht erwähnt oder bedacht wird, ist die Notwendigkeit, auch die mentale Flexibilität des Pferdes zu entwickeln: seine Fähigkeit mitzudenken, sich an neue Situationen anzupassen und sich auf neue Übungen und Anforderungen einzustellen.

Das trifft auch auf den Reiter zu. Wir Reiter müssen ebenfalls eine geistige Beweglichkeit entwickeln, sodass wir schneller umdenken, kreativer arbeiten, uns besser auf neue Umstände einstellen und widerstandsfähiger gegenüber Rückschlägen sein können.

Wie sieht das konkret aus?

  • Beim Pferd macht sich eine geistige Rigidität (also das Gegenteil von mentaler Flexibilität) unter anderem folgendermaßen bemerkbar:
  • Das Pferd erkennt eine altbekannte Dressurlektion nicht, wenn man sie an einer neuen Stelle der Bahn, auf einer neuen Hufschlaglinie oder in einem neuen Kontext reitet.
  • Das Pferd ist überrascht, wenn man einen bestimmten Übergang an einer ungewohnte Stelle oderin einem neuen Kontext reitet.
  • Das Pferd ist überrascht, wenn man eine Wendung an einer neuen Stelle oder in einem neuen Kontext reitet.



Beim Reiter zeigt sich geistige Unbeweglichkeit unter anderem durch folgende Verhaltensweisen:

  • Die Reiterin beharrt auf einer mechanischen, schematischen Vorgehensweise, die von einer bestimmten Fraktion vorgeschrieben wird, obwohl das Pferd ihr mitzuteilen versucht, dass dies momentan die falsche Vorgehensweise ist.
  • Der Reiter kennt nur einen einzigen Ausbildungsweg und nur einen Lösungsansatz zu jedem Problem.
  • Die Reiterin versucht, das Pferd an die Methode anzupassen anstatt umgekehrt.
  • Der Reiter reitet immer dieselben Linien und Lektionen an derselben Stelle der Bahn und in derselben Reihenfolge, ohne das Programm zu verändern.



Dies sind die Dinge, die wir nicht wollen. Aber was wollen wir dann? Wir wollen ein Pferd, das jederzeit in der Lage ist:

  • anzuhalten
  • vorwärts zu gehen
  • links oder rechts zu wenden
  • sich links oder rechts zu biegen
  • einen Übergang in eine andere Gangart auszuführen
  • rechts oder links überzutreten
  • sein Gewicht von einer Seite zur anderen zu verlagern
  • schnell zu denken und prompt auf die Wünsche des Reiters einzugehen



Und als Reiter möchten wir in der Lage sein

  • herauszufinden, wie wir dem Pferd helfen können
  • die Grundursache eines Problems zu identifizieren
  • viele verschiedene Lösungsansätze für jedes Problem zu finden
  • die Arbeit abwechslungsreich und interessant für uns und das Pferd zu gestalten
  • umzuschalten und den Plan zu ändern, wenn unsere gegenwärtige Strategie oder Übung nicht in die richtige Richtung führt.sacc




Genau so wie körperliche Geschmeidigkeit nicht ein Mangel an Rumpfstabilität ist (Geschmeidigkeit setzt im Gegenteil sogar Rumpfstabilität voraus!), trifft dasselbe auch auf die mentale Flexibilität zu. Um geistig beweglich zu sein bedarf es zunächst einer soliden Grundlage an Wissen und dem Verständnis von Prinzipien. Diese geben Ihnen ein solides Fundament. Auf diesem aufbauend können Sie experimentieren und sogar bewusst“die Regeln brechen”, solange Sie dabei nicht Ihre Kernwerte und Prinzipien verlassen.
Ich bin natürlich nicht die erste, die das erwähnt. Pablo Picasso sagte: “Lerne die Regeln wie ein Profi, sodass du sie wie ein Künstler brechen kannst.” Und der 14. Dalai Lama sagte, “Kenne die Regeln gut, sodass du sie effektiv brechen kannst.” Fast dieselbe Aussage von zwei Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebensläufen. Es ist jedoch ein gültiges “Prinzip”, das Sie auch auf das Reiten anwenden können.

Geistig flexibel zu sein, erlaubt Ihnen die Taktik zu ändern, wenn Ihre gegenwärtige Vorgehensweise kein gutes Resultat mehr bringt. Anstatt stur auf demselben Gedankengang oder derselben Methodik zu beharren, können Sie einen Moment überlegen, warum es nicht so funktioniert, wie Sie es sich erhofft hatten. Wenn Sie sich diesen Augenblick Zeit nehmen um nachzudenken, reduziert dies oft den Druck des Augenblicks und Sie haben die Gelegenheit umzudenken (falls Sie sich dafür entscheiden), einen anderen Weg zu finden, oder vielleicht sogar das Thema zu wechseln, an dem Sie arbeiten. Wenn es Ihnen gelingt, geistig flexibel zu sein, stellen Sie vielleicht fest, dass Ihre Prämisse falsch war. Die Tatsache, dass Ihre bisherigen Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt waren, zeigt oft, dass mehr dahinter steckt. Sollten Sie wissbegierig sein und den Dingen auf den Grund gehen, entdecken Sie eventuell etwas viel Wichtigeres.
Es ist in der Arbeit mit Pferden ein riesiger Vorteil, wenn man schnell eine Richtungsänderung in der Taktik vornehmen kann. Pferde sind dynamische, denkende, fühlende Wesen. Sie sind keine Roboter und sie halten sich definitiv nicht an irgendwelche Lehrbücher. Um im Augenblick präsent zu bleiben und die gegenwärtigen Bedürfnisse des Pferdes im richtigen Moment zu erfüllen, muss man den Wert der geistigen Flexibilität erkennen und diese in der eigenen Reiterei kultivieren.

Bleibt man als “Künstler” flexibel, kann man den “Wissenschaftler” in sich wecken. Ein guter Wissenschaftler sollte sich nicht im voraus an ein bestimmtes Ergebnis seines Experiments klammern. Dasselbe gilt für das Reiten. Man sollte mit Überlegung diagnostizieren und Arbeitshypothesen aufstellen und testen, um die Ursachen für die jeweiligen Symptome des Pferdesherauszufinden. Wenn man objektiv bleibt und sich nicht emotionell an eine Theorie bindet, ist man in der Lage, wenn nötig die Taktik zu ändern. Man hat dadurch auch die Möglichkeit, alles was man tut zu benützen, um mehr Informationen über das Pferd, seine Probleme und Bedürfnisse zu sammeln. Man kann seine Arbeitshypothesen testen und aufgrund der Reaktionen des Pferdes anzupassen. Sollte sich eine Hypothese durch die Reaktion des Pferdes als falsch herausstellen, verwirft man sie, stellt eine neue Diagnose, eine neue Arbeitshypothese und testet sie erneut aus. Dadurch tastet man sich auf wissenschaftlichem Weg an die richtige Lösung heran.

Wie die Autorin Pearl Zhu schrieb, ist “Flexibilität ein mentaler Process, der eine Handlung produziert, die eine mögliche Lösung testet.”

Geistig flexibel zu bleiben enthält auch die Bereitschaft “outside the box” zu denken und Lösungen in Betracht zu ziehen, die nicht unbedingt den traditionellen Regeln folgen. Solange sie nicht Ihre ethischen Prinzipien und Werte verletzen, können sie einen gangbaren Weg aufzeigen. Um “outside the box” zu denken muss man sich emotionell von den ständig wiederholten Schlagwörternlösen, auch wenn sie vielleicht in Ihrer Erfahrung in der Vergangenheit oft funktioniert haben. Wenn ich eines gelernt habe auf dieser Dressurreise, dann ist es, dass es zu jeder Regel Ausnahmen gibt. Bleibt man zu sehr an der “Regel” haften, wird man wertvolle Gelegenheiten verpassen, mehr zu lernen und bessere Lösungen für sein Pferd zu finden.


- Thomas & Shana Ritter
www.artisticdressage.com

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