Anwendung der Biomechanik in der Pferdeausbildung

Einleitung


Der traditionelle Mainstream-Dressurunterricht ist oft sehr symptom orientiert, d.h. er bleibt an der Oberfläche (“runder!”, “mehr vorwärts!”, “mehr Bein!”, “mehr über den Rücken!”, “mehr Biegung!”, usw.). Während diese Anweisungen zwar durchaus richtig sein können, wird normalerweise nicht erklärt, WIE man sie umsetzen soll, oder WARUM sie zu einem gegebenen Zeitpunkt gerade notwendig sind.

Was sehr oft fehlt, ist eine Analyse und Erklärung der biomechanischen Ursachen und Wirkungen, sowie die Wechselbeziehungen der einzelnen Körperteile des Pferdes unter einander, sowie die Wechselbeziehungen zwischen Pferd und Reiter.

Alle Körperteile von Pferd und Reiter sind mit einander verbunden und beeinflussen einander auf komplexe und interessante Art und Weise. Jedesmal, wenn man eine Veränderung an einem Körperteil des Pferdes vornimmt, wird dies seine Balance, Geraderichtung, Durchlässigkeit, Losgelassenheit und Anlehnung beeinflussen. Jedesmal, wenn man eine Veränderung im Sitz vornimmt, wird dies Gand und Haltung des Pferdes beeinflussen.

 

Ein Netz von Wechselwirkungen


Eine Steifheit oder Blockade in einer Muskelgruppe kann Steifheiten oder Blockaden in anderen Körperteilen auslösen.


Das Geschmeidigmachen eines steifen Muskels wird eine Entspannung anderer Muskeln herbeiführen.


Andererseits kann eine Muskelblockade in einem Körperteil als Kompensation eine Hypermobilität an einer anderen Stelle auslösen. Hypermobilität in einem Körperteil kann daher auch eine Blockade an einer anderen Stelle verstecken. Wenn man diese Blockade finden und entfernen will, muss man zuerst die hypermobilen Gelenke so einrahmen, dass das Pferd dort nicht mehr ausweichen kann, bevor man die steifen Muskeln überhaupt erreichen kann.

Manchmal ist ein Muskel steif, weil ein anderer Muskel nicht genug arbeitet. Damit das Pferd den steifen Muskel entspannen kann, muss es zuerst den “Partnermuskel” anspannen.


Dasselbe gilt für die Reiterin. Sie kann einen verspannten Muskel nur loslassen, wenn sie zuerst den “Partnermuskel” anspannt.


Eine Steifheit in einem Muskel des Reiterkörpers verursacht Steifheit in denjenigen Pferdemuskeln, die mit denen er in Verbindung steht.


So blockieren beispielsweise steife Reiterhüften die Pferdehüften und machen sie steif. Steife Handgelenke verursachen beim Pferd ein steifes Genick.


Andererseits kann eine Steifheit im Reiterkörper auch durch eine Hypermobilität im Pferd kompensiert werden. Zum Beispiel wenn die Reiterin auf der hohlen Seite am inneren Zügel zieht, blockiert sie das innere Hinterbein. Als Folge weicht das Pferd mit den Schultern nach außen aus, sodass der Halsansatz instabil wird und sich verbiegt.

Biomechanik ist das Gebiet, das diese Wechselwirkungen wissenschaftlich beschreibt und erklärt. Je gründlicher wir die Prinzipien studieren und verstehen, die die Beziehungen zwischen verschiedenen Körperteilen regulieren, desto leichter wird es, Oberflächenphänomene auf ihre Ursachen zurück zu führen. Dadurch wird es leichter,  Problemlösungen zu finden oder dem Pferd eine Treppe aus kleinen Lernschritten zu bauen, wenn man ihm eine neue Lektion beibringt. Dieses Wissen hilft Ihnen bei der Auswahl der richtigen Übungen für Ihr Pferd.

Viele dieser Beziehungen und Wechselwirkungen sind nicht ein einem zentralen Ort leicht zugänglich niedergeschrieben, sondern weit über die Literatur verstreut. Viele ältere, erfahrene Pferdeleute kennen sie zwar durch ihre jahre- oder jahrzehntelange Erfahrung mit hunderten von Pferden, aber sie schreiben sie nicht auf. Daher habe ich hier einmal eine Liste von Wechselbeziehungen zusammengetragen, die ich im Laufe der Jahre beobachten konnte.

Experimentieren Sie bitte mit allen Einträgen auf meiner Liste und ergänzen Sie sie durch Ihre eigenen Beobachten und Erfahrungen. Je mehr wir alle zusammen arbeiten und unsere Erfahrungen und Beobachtungen mit einander teilen, desto mehr kann sich das Gesamtwissen in der Reiterei vermehren und alle profitieren davon.

 

Diagnose: Beziehungen zwischen Körperteilen

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  • Die Ganasche beeinflusst die gleichseitige Hüfte.
  • Die Hüfte beeinflusst die gleichseitige Ganasche.
  • Das Genick beeinflusst die Schulter und den Halsansatz (ein blockiertes Genick kann zu einem seitlichen Ausweichen der Schultern und seitlichem Verbiegen im Halsansatz führen).
  • Die seitliche Hebelwirkung des Halses kann die Hinterhand seitlich weichen lassen.
  • Die vertikale Hebelwirkung des Halses beeinflusst die Hinterhand in vertikaler Richtung.
  • Form, Länge und Ansatz des Halses beeinflussen die Bewegung des Pferderückens und der Hinterhand.
  • C5 <-> L1, C1 <-> L5/L6: Lösen von Muskelblockaden im Hals erlaubt die Aufwölbung des Rückens sowie größere Beweglichkeit der Hinterbeine.
  • Mobilisierung der Schultern kann Muskelblockaden in Hals und Genick lösen.
  • Rückenlänge und -breite beeinflussen Biegung, Hinterhandbewegung und Halsposition.
  • Vertikale Beweglichkeit der Hinterhand beeinflusst Brustkorb, Rücken und Hals.
  • Engagement und Beugung der Hinterhand beeinflussen die Anlehnung.
  • Ausrichtung der Hüften und Schultern beeinflusst die Anlehnung.
  • Die Hinterbeine beeinflussen die Positionierung der Schultern und die Schulterfreiheit.
  • Die schrägen Bauchmuskeln beeinflussen die Hinterbeine (verspannte schräge Bauchmuskeln blockieren die Hinterbeine)
  • Beckenposition und Hinterhandgebäude beeinflussen den Rücken (Beckenrotation hebt oder senkt die LWS)

 


Problemlösungsstrategien


Die Beziehungen zwischen den verschiedenen oben genannten Körperteilen helfen bei der Diagnose von Problemursachen. Sie helfen Ihnen auch bei der Entwicklung von Lösungsansätzen. Hier sind einige Strategien, die sich beim Lösen von Problemen als hilfreich erwiesen haben.

1. Suchen Sie nach der Ursache des Problems durch

a) Testen einzelner Körperteile des Pferdes mittels Übungen und/oder

b) Zerlegung einer Lektion, die man reiten möchten, in ihre elementaren Bestandteile. Beobachten Sie etwaige Schwierigkeiten, die das Pferd damit hat.


2. Formulieren Sie eine Arbeitshypothesis (Diagnose) bezüglich der Ursache dieser Schwierigkeiten.


3. Testen Sie Ihre Arbeitshypothese (Diagnosis) indem Sie eine Übung auswählen oder zusammenstellen, die diejenigen Muskelgruppen geschmeidig macht oder kräftigt, die Sie als Teil des Problems identifiziert haben. Falls Sie den Verdacht hegen, dass das Problem aus einem Mangel an Körperbewusstsein, Koordination oder Balance besteht, entwerfen Sie eine Übung, die diese testet und verbessert. Reiten Sie die Übung und beobachten Sie die Reaktion des Pferdes.

  • a) Kann das Pferd die Übung ausführen?
  • b) Wenn ja, war sie leicht oder schwer?
  • c) Wie hat das Pferd die Übung ausgeführt?
  • d) Welcher Teil der Übung war am schwierigsten?
  • e) War die Übung schwieriger auf der rechten oder linken Hand?
  • f) Hat sich die Ausführung der Übung innerhalb der ersten 3 Versuche verbessert?
  • g) Haben sich Gang und Haltung des Pferdes als Folge der Übung verbessert? Testen Sie das Ergebnis, indem Sie anschließend einen 20m Zirkel oder Ganze Bahn auf einfachem Hufschlag in einer höheren Gangart reiten.

4. Wenn nötig modifizieren Sie die ursprüngliche Übung, um die effektivste Variante zu finden. Stellen Sie sich die Übungen als Legobaukästen vor. Sie können jederzeit Elemente hinzufügen, oder Elemente weglassen, die gerade nicht hilfreich sind und Sie können ineffektive Elemente gegen besser geeignete austauschen.


5. Probieren Sie verschiedene Sitz- und Hilfenvarianten, mit denen Sie das Pferd durch die Übung führen und es unterstützen. Manchmal muss man jeden Tritt planen und bestimmten Teilen der Aufgabe spezifische Hilfen zuordnen, um das Pferd bei Handwechseln, Gangartwechseln, Biegungswechseln, oder in Lektionen zu unterstützen. Versuchen Sie, dem Pferd die Arbeit durch Ihren Sitz und Ihre Hilfen zu erleichtern, nicht sie schwerer zu machen.

6. Beobachten und analysieren Sie das Ergebnis.

  • a) Falls das Problem durch das Reiten der Übung oder Serie von Übungen gelöst ist, suchen Sie sich das nächste Problem zur Bearbeitung.
  • b) Falls das Problem zwar kleiner geworden, aber noch nicht ganz gelöst ist, suchen Sie nach weiteren potentiellen Faktoren, die dazu beitragen und eliminieren Sie sie mit Hilfe desselben Prozesses.
  • c) Falls das Problem unverändert weiter besteht oder schlimmer geworden ist, suchen Sie eine andere Arbeitshypothese, die auf einer anderen potentiellen Ursache aufbaut.

 

Allgemeine strategische Überlegungen

  1. Schreiten Sie von einfachen zu komplexen Übungen fort.
  2. Reiten Sie eine neue Übung zuerst im Schritt, um das Pferd damit vertraut zu machen. Wenn die Übung im Schritt leicht gelingt, probieren Sie sie im Trab. Wenn sie im Trab relativ mühelos gelingt, probieren Sie sie im Galopp, falls die Übung sich für den Galopp eignet.
  3. Sollte sich eine Übung als zu schwierig für Ihr Pferd erweisen, suchen Sie nach einer “milderen” Variante, die dieselben Muskelgruppen oder dieselben Fertigkeiten anspricht.
  4. Bauen Sie eine Treppe aus kleinen Lernschritten für das Pferd. Ist einer der Lernschritte zu groß, versuchen Sie ihn in 2 oder mehr kleinere Schritte zu unterteilen.
  5. Erklären Sie dem Pferd die Hilfen, falls es ein Verständnisproblem gibt.
  6. Erklären Sie dem Pferd die 6 elementaren Bewegungsmuster (Vorwärts, Halten, Biegen, Wenden, Übertreten, Rückwärtsrichten).
  7. Zerlegen Sie komplexe Bewegungen in ihre elementaren Bestandteile und üben Sie diese zuerst separat.
  8. Untersuchen Sie regelmäßig alle Körperteile auf ihre Beweglichkeit und verbessern sie die Mobilität wo immer sie fehlen sollte.
  9. Entwickeln Sie das Körpergefühl, die Balance, Koordination und Geschmeidigkeit/Mobilität durch geeignete Übungen.


Zusammenfassung


Diese strategischen Hinweise und Vorschläge sollen Ihnen helfen, bewusster und gezielterin der Pferdeausbildung vorzugehen. Ohne ein gutes theoretisches Gerüst ist die Gefahr sehr groß, dass man herumreitet und im Dunkeln tappt, in der Hoffnung, dass sich irgendwann etwas verbessert.


Besitzt man ein gutes theoretisches Gerüst, kann man das Rätselraten weitgehend eliminieren und wissenschaftlich an die Problemanalyse herangehen. Das theoretische Rahmenwerk wird ständig in der praktischen Anwendung getestet und kontrolliert. Es kann jederzeit erweitert oder korrigiert werden. Jeder Reiter kann dem theoretischen Gerüst neues Wissen hinzufügen und diejenigen Aspekte ändern, die sich in der Praxis nicht bewähren.


Man kann innerhalb bereits existierender Theorien arbeiten und sie testen um herauszufinden, welche Teile sich in der Praxis bewähren und welche nicht. Langfristig sollte jeder sein eigenes Rahmenwerk erstellen, dass diejenigen Teile der bereits existierenden Methoden verwendet, die sich bei Ihnen und Ihren Pferden als effektiv herausstellen. Aber scheuen Sie sich nicht, jene Teile zu ersetzen, die nicht gut funktionieren und sie durch Teile zu ersetzen, die Sie von anderen borgen oder selbst entwerfen.

Um systematisch arbeiten zu können, brauchen Sie mehrere “Datenbanken”, die untereinander vernetzt sind:

  1. Eine Liste der elementaren Anforderungen oder Bewegungsmuster
  2. Timing der Hilfen
  3. Eine Liste davon, welche Übungen die einzelnen Körperteile des Pferdes ansprechen
  4. Eine Liste der Beziehungen zwischen den Körperteilen von Pferd und Reiter
  5. Eine Liste der Voraussetzungen und elementaren Bestandteile, die in den traditionellen Dressurlektionen enthalten sind.

 

Diese Listen finden Sie in meinem Buch “Klassisches Reiten auf der Grundlage der Biomechanik”.