Neue Überlegungen zur Skala der Ausbildung

Neue Überlegungen zur Skala der Ausbildung Thomas Ritter

Einleitung

Mein Verständnis der Skala der Ausbildung verändert sich und entwickelt sich ständig weiter aufgrund meiner praktischen Erfahrungen in der Pferdeausbildung und im Unterricht. Dieser Entwicklungsprozess fing an, als ich im Rahmen eines Lehrgangs zum bronzenen Reitabzeichen zum ersten Mal von der Skala der Ausbildung hörte. Wir mussten für die theoretische Prüfung die Begriffe Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Geraderichten, Schwung und Versammlung auswendig lernen. - Und das wars auch schon. Es gab keine Erklärung dafür, was diese Begriffe bedeuteten oder wie sie mit einander zusammenhingen. Wir mussten sie aufzählen und erklären können, wie man sie erkennen kann.

Meine eigene Entwicklung

Dann fand ich in einer Buchhandlung ein Buch von Alfred Knopfhart, mit dem Titel “Elemente der Reitkunst”. Jedes Kapitel war einem dieser Elemente der Skala der Ausbildung gewidmet. Zusätzlich gab es auch ein Kapitel über die Balance, die nicht Teil der traditionellen Ausbildungsskala ist. Ich fand das Buch sehr interessant, aber gleichzeitig dachte ich, dass ich nie gut genug reiten würde, um irgend etwas von dem umsetzen zu können, was der Autor beschrieb. Es schien alles weit über meine Fähigkeiten zu gehen.

Ich ritt aber weiter und nahm regelmäßig Unterricht. Manche meiner Lehrer erklärten uns die Konzepte der Ausbildungsskala und als ich allmählich besser reiten lernte, dachte ich, dass die Ausbildungsskala genial war. Absolut zutreffend.

Aber ich ritt weiter, las die klassischen Autoren und dachte viel über meine Erfahrungen mit den Pferden nach. Dabei hinterließ eine Aussage der alten Meister einen tiefen Eindruck bei mir, die nicht so ganz zur Skala der Ausbildung zu passen schien: “Gleichgewicht und Geschmeidigkeit sind die Eckpfeiler der Dressur.” Das machte Sinn und erklärte vieles von dem, was ich beobachtet und gefühlt hatte. Gleichgewicht/Balance scheint bei allen Ausbildungsproblemen eine Rolle zu spielen. Nur leider ist die Balance kein Bestandteil der Ausbildungsskala, obwohl ihr in der Pferdeausbildung eine so zentrale Bedeutung zukommt. Ich fand das verwirrend und fing an, die Ausbildungsskala in Frage zu stellen.

Als ich mich weiterhin mit der klassischen Reitkunst in Theorie und Praxis beschäftigte, fiel mir auf, dass viele Reiter zu glauben schienen, dass die Ausbildungsskala eine lineare Abfolge darstellt: Man arbeitet zuerst am Takt, dann an der Losgelassenheit, dann an der Anlehnung, usw. Das passte jedoch gar nicht zu meiner eigenen Erfahrung mit den Elementen der Ausbildungsskala. Alles schien mit einander zusammenzuhängen und sich gegenseitig zu bedingen. Alois Podhajsky, der ehemalige Direktor der Spanischen Reitschule in Wien schrieb (1965, 38f.): “Die Anlehnung wird um so besser sein, je mehr das Pferd im Gleichgewicht geht; andererseits aber wird wieder die richtige Anlehnung Gleichgewicht und Biegsamkeit des Pferdes fördern.” Und unser damaliger Lehrer, Karl Mikolka, der 14 Jahre unter Alois Podhajsky und Hans Handler an der Spanischen Reitschule verbrachte, sagte uns bei einem Lehrgang: “Wenn die Milch und der Zucker erst im Kaffee sind, dann kann man sie auch nicht wieder trennen,” d.h. alle Elemente der Ausbildungsskala hängen unter einander zusammen.

Aufgrund dieser Beobachtungen entwickelte ich eine Version der Ausbildungsskala in Form eines Rades mit Speichen oder eines dreidimensionalen Netzwerks, welche ich in meinem Buch “Klassisches Reiten auf der Grundlage der Biomechanik” von 2010 beschrieb. Alle Elemente der Ausbildungsskala sind mit allen anderen verbunden. Wann immer es eine Verbesserung in einem dieser Elemente gibt, wird man auch eine Verbessrung bei allen anderen feststellen können. Und wenn es bei einem dieser Elemente Schwierigkeiten gibt, wird man die Auswirkungen auch in allen anderen Elementen spüren.

Ich entschied auch, dass die Balance so wichtig ist, dass sie ganz unten in die Ausbildungsskala integriert werden muss, da sie eine Voraussetzung für die Losgelassenheit ist. Ein unausbalanciertes Pferd wird sich immer verspannen um nicht umzufallen. Dadurch ist es ihm nicht möglich sich loszulassen oder eine leichte, stete, gleichmäßige Anlehnung zu entwickeln (Miguel Tavora, 2018, 17: “Balance, Losgelassenheit, Schwung und Leichtheit sind von einander abhängig.”).

Nur ein ausbalanciertes Pferd kann sich loslassen, und nur ein losgelassenes Pferd kann Schwung und Versammlung entwickeln (Nuno Oliveira, 1988, 24: “Schwung kommt von der körperlichen und geistigen Losgelassenheit des Pferdes.” Otto v.Monteton, 1877, 71: “Jede Versammlung, die man erzielen will, setzt, ehe man mit der Versammlung beginnen kann, die höchste Losgelassenheit voraus.”)

Durch die Beobachtungen, die ich bei der Arbeit mit vielen verschiedenen Pferden machen konnte, kam ich zu der Überzeugung, dass die Balance 2 Aspekte besitzt: die seitliche Balance und die longitudinale Balance.

Die seitliche Balance wird dadurch erzeugt, dass man eine Hufschlagfigur auswählt und den Pferdekörper an ihr entlang ausrichtet. Das linke Beinpaar muss dabei auf der linken Seite der gerittenen Linie blieben, das rechte Beinpaar auf der rechten Seite der Linie und die Wirbelsäule bildet einen Ausschnitt der Linie. Dies ermöglicht dem Pferd sein Gewicht gleichmäßig zwischen den rechten und linken Beinen zu verteilen. (Manoel Carlos de Andrade, 1790, 189: “In allen Gängen und auf allen Figuren muss sich das Pferd auf die Einwirkungen des Reiters einstellen und sich ihnen entsprechend bewegen, den nur so kann es reaktionsschnell, in richtiger Haltung und Stellung im Gleichgewicht sein”.) Sie verhindert auch, dass das Pferd eine Schulter permanent überlastet, während das diagonale Hinterbein sich kaum an der Arbeit beteiligt.

Die longitudinale Balance entsteht, wenn man im Schritt, Trab oder Galopp ein gleichmäßiges Tempo einhält, das weder zu schnell noch zu langsam ist (Ludwig Hünersdorf, 1800, 347f.: “Das Pferd würde nie eine Haltung in irgend einem Gang bekommen, wenn es anfangs bald langsam, bald geschwind gehen dürfte.”).

Die Ausrichtung der Pferdebeine auf der gerittenen Linie, sowie Zirkel, die wirklich rund sind und gerade Linien, die wirklich gerade sind, bilden den ersten Schritt zur Geraderichtung. Das bedeutet, dass die Geraderichtung für die Entwicklung der Balance und aller anderen Begriffe der Ausbildungsskala genauso fundamental wichtig ist wie Takt und Tempo. Deshalb sollte sie ganz am unteren Ende der Ausbildungsskala erscheinen, nicht erst an der Spitze. (Waldemar Seunig, 1949, 137: “Ohne Geraderichtung, die der Schlüssel zu vollkommenem Gleichgewicht und damit zur sicheren Selbsthaltung ist, gibt es keinen ungehindert von rückwärts nach vorn durch den Körper flutenden Schwung, darum auch keine wirkliche Durchlässigkeit oder gar Versammlung.”).

Heute, 10 Jahre später, haben sich meine Gedanken zur Ausbildungsskala weiter entwickelt. Und das ist wahrscheinlich die wichtigste Erkenntnis dabei. In dem Maße, wie unsere Erfahrung und das Verständnis zunehmen, verändern sich auch unsere Ansichten über die Ausbildung und theoretische Themen, wie die Ausbildungsskala.

Vielleicht gibt es auch gar keine “korrekte” oder “definitive” Ausbildungsskala, sondern nur Phasen in unserer Ausbildung als Reiter. Jeder hat wahrscheinlich seine eigene Ausbildungsskala im Kopf, und diese kann sich im Laufe der Zeit verändern. Das ist auch vollkommen in Ordnung. Diese Ausbildungsskalen sind einfach Versuche, aus unseren Beobachtungen und unserem gegenwärtigen Verständnis ein System zu erstellen, und wir sollten nicht zögern, es zu verändern, wenn wir neue Beobachtungen machen und neue Verbindungen herstellen.

Für mich stellt das theoretische Verständnis einen Rahmen dar, in den ich alle meine Beobachtungen integrieren kann. Er hilft mir, die “Rohdaten”, d.h. das, was ich sehe und spüre, zu verstehen. Er ist wie eine Landkarte, die mir hilft zu bestimmen, wo ich mich in der Ausbildung des Pferdes befinde, wo ich hin will und welche Wege mich zu meinem Ziel bringen können.

Zusammenfassung

Die körperlich-athletische Ausbildung des Pferdes beginnt mit der Herstellung der Balance durch die Auswahl einer Hufschlagfigur und die Ausrichtung der Pferdebeine auf diese Linie (Geraderichtung) und durch die Einrichtung eines gleichmäßigen Tempos (Takt). Dies führt zur Losgelassenheit und einer steten leichten und gleichmäßigen Anlehnung.

Aus der Losgelassenheit entwickelt sich durch gymnastische Übungen, die den Pferdekörper auf Verspannungen hin untersuchen und diese beseitigen, eine immer größer werdende Geschmeidigkeit.

Balance (inkl. Geraderichtung), Geschmeidigkeit und die Verbindung der Pferdebeine mit dem Gewicht und dem Boden führt zu elastischen, kraftvollen Gängen (Schwung).

Sie ermöglichen dem Pferd ebenfalls, den Bewegungsrahmen der Hinterbeine zu erweitern, was zu einer Vergrößerung der Versammlung führt.

Die Verbindung der Pferdebeine mit dem Gewicht und dem Boden entsteht aus der Körperwahrnehmung des Pferdes und dem Bewusstsein, wo sich seine Beine befinden.

Vielleicht sollte man die Skala der Ausbildung erweitern um die Begriffe Balance, Körperwahrnehmung, Bodenverbindung und Geschmeidigkeit, weil es sich bei ihnen um gymnastische Kategorien handelt, die eine zentrale Rolle in der athletischen Entwicklung des Pferdes spielen.

Dr. Thomas Ritter