Wir müssen ihm noch keinen Namen geben: Prioritäten beim Training setzen

Einleitung


Einer unserer alten Lehrer liess seine Schüler manchmal Seitengänge reiten mit dem Hinweis: “Wir müssen dem noch keinen Namen geben. Wenn wir es Schulterherein oder Kruppeherein nennen, sind wir zu sehr festgelegt auf eine bestimmte Biegung und eine bestimmte Abstellung.” Mir hat diese Einstellung sehr zugesagt, weil sie den Stress und den Druck wegnimmt, immer perfekt sein zu müssen. Wenn man glaubt, man müsste eine Lektion gleich beim ersten Versuch perfekt reitenkönnen und bei jedem weiteren Versuch ebenso, nur um harte Kritik zu vermeiden, dann setzt man sich selbst und sein Pferd viel zu sehr unter Druck und “Versagen” und Frustration sind vorprogrammiert.


Wir wissen alle aus Erfahrung, dass wir nicht alles auf einmal bekommen können, vor allem wenn wir dem Pferd eine neue Lektion beibringen, oder wenn wir selbst eine neue Lektion lernen. Es ist sehr schwierig, “alle Enten in eine Reihe” zu bekommen, wie man im Englischen sagt. Oft haben wir schon Glück, wenn alle unsere Enten auf dem gleichen See schwimmen.


Das bedeutet, dass wir eine Entscheidung treffen müssen, welche Elemente einer Lektion wir zuerst einführen. Welche Aspekte sind die wichtigsten? Welche Aspekte sind grundlegend? Welche sind eher peripher und können später angegangen werden? Mit andere Worten, wir müssen Prioritäten setzen. Wir sollten mit dem zentralsten, wichtigsten Element anfangen und uns dann vom Zentrum zur Peripherie vorarbeiten.

 

Prioritäten


Ein gutes Beispiel zur Illustration dieses Gedankens ist das Schenkelweichen mit der Nase zur Wand, das Konterschulterherein und das Kruppeherein. Das fortgeschrittene Dressurpferd sollte alle drei in klar erkennbarer Weise ausführen können und es sollte die Bedingungen für alle drei Lektionen erfüllen können.


Wenn man jedoch bei einem jungen Pferd erst mit den Seitengängen neu anfängt, dann ist das keine realistische Erwartung.

Also muss man entscheiden: Womit fange ich an?

 

Gerittene Linie, Tempo, Trittlänge


Die Grundlage für alle Lektionen ist, dass man gezielt eine bestimmte Linie in einem passenden, regelmäßigen Tempo und mit einer konstanten Trittlänge reitet. Die gerittene Linie hilft dem Pferd seine seitliche Balance zu finden. Das gleichmäßige Tempo und die konstante Trittlänge helfen dem Pferd seine longitudinale Balance zu finden. Sind diese Parameter erreicht, beläßt man die Vorderbeine des Pferdes auf der gerittenen Linie und bittet das Pferd, seine Hüften ein wenig seitlich von der Linie nach innen zu bewegen.


Man dreht hierür sein Becken, sodass die Hüfte auf der Seite des übertretenden Hinterbeins etwas zurückgenommen ist und die Hüfte auf der Seite des Hinterbeins, das geradeaus geht, etwas vorgenommen ist. Man verlegt das Gewicht in die Bewegungsrichtung und Schenkel und Zügel auf der Seite des kreuzenden Hinterbeins unterstützen einander beim weichen lassen. Man kann das Pferd zu einer leichten Biegung gegen die Bewegungsrichtung einladen, da dies für die meisten Pferde leichter ist.


Manchmal braucht das Pferd Zeit zum Nachdenken: “… Was soll ich tun? …. Welches Bein kommt als nächstes dran?  … Wo soll es hingehen? … Wo muss mein Gewicht hin, damit ich nicht umfalle? …” Als Folge davon verlangsamen manche Pferde ihr Tempo, weil die Beine sich nur so schnell bewegen können wie das Gehirn denken kann. In diesem Falle muss man beim Tempo einen Kompromiss eingehen und dem Pferd erlauben, langsamer zu werden. Sonst bekommt es unnötigen Stress.

 

Kruppe nach innen weichen lassen und Gewicht verlagern


Solange das Weichen der Kruppe nach innen noch neu ist, empfiehlt es sich, nur 3-4 Tritte übertreten zu lassen, sodass man die Übergänge vom einfachen Hufschlag ins Übertreten und zurück üben kann. Man mobilisiert die Hanken, indem man sie hin und her bewegt. Dies erfordert auch eine seitliche Gewichtsverlagerung des Pferdes. Es muss sein Gewicht in die Bewegungsrichtung verlagern, was für viele Pferde eine große Herausforderung darstellt. Wenn sie sich unausbalanciert fühlen, als ob sie hinfallen könnten, dann werden sie sich gegen das Übertreten wehren.


Wenn das Weichen der Kruppe leichter geworden ist, kann man an der präziseren Kontrolle der Abstellung arbeiten, wozu man die einrahmenden Hilfen benötigt. Anfangs ist man vielleicht nur dazu in der Lage, den Schenkel auf der Seite des übertretenden Hinterbeines einzusetzen, eventuell mit etwas Unterstützung vom gleichseitigen Zügel. Sobald die Hinterbeine weichen, kommt jedoch bald der Zeitpunkt, an dem das Pferd lernen muss, dass es eine Grenze für die Abstellung gibt, mit der es übertreten soll. Das ist die Aufgabe des vorwärts treibenden Schenkels auf der anderen Seite des Pferdes.

 

Seitenbiegung und Beizäumung

Wenn man die Vorderbeine des Pferdes auf der gerittenen Linie halten kann, während man die Kruppe weichen lässt und wenn man den Grad der Abstellung bestimmen kann, dann kann man auch anfangen, sich mit dem Pferd detaillierter über Biegung und Beizäumung zu unterhalten.


Die meisten Pferde finden es leichter, sich beim Übertreten gegen die Bewegungsrichtung zu biegen als in die Bewegungsrichtung. Daher werden in der Ausbildung im allgemeinen die schulterhereinartigen Seitengänge vor den traversartigen geübt.


Manche Pferde gehen anfangs vielleicht etwas über den Zügel. Manchmal kann man dies korrigieren, indem man den Hals etwas seitlich biegt, um die Verspannung im Unterhalsbereich zu lösen.


Manche Ausbilder sind der Meinung, dass der Pferdehals immer rund sein muss. Sonst gehe das Pferd nicht “über den Rücken”. Kopf und Hals sind allerdings eine Balancierstange für das Pferd. Und wenn man die Balance des Pferdes auf eine neue und herausfordernde Art verändert, dann wird es öfter Kopf und Hals zum Balancieren verwenden müssen, bis es lernt seine Rumpfmuskulatur mehr einzusetzen. Daher neige ich dazu zu denken, dass wir in dieser Hinsicht ein wenig großzügig   sein sollten. Wenn das Pferd seine Balance wieder gefunden hat und sich darin wohl fühlt, dann werden in den meisten Fällen auch Kopf und Hals fast von selbst in die richtige Position kommen.


Manche Ausbilder lehnen das Schenkelweichen als legitime gymnastische Übung völlig ab, aber in dem Stadium, wo das Pferd lernen soll seine Hüften seitwärts zu bewegen, ist es manchmal hilfreich, sich zunächst auf das seitliche Mobilisieren der Hinterbeine zu konzentrieren. Das Übertreten wird dann eine zeitlang mehr wie ein Schenkelweichen aussehen.


Sobald dies leicht geworden ist, kann man an der Verbesserung der Biegung arbeiten, sodass aus dem bloßen Übertreten ein Konterschulterherein wird.


Wenn sich die seitliche und vertikale Beweglichkeit der Hinterbeine ausreichend verbessert hat, wird sich das Pferd auch in die Bewegungsrichtung biegen können, sodass aus dem Konterschulterherein ein Kruppeherein entsteht.

 

Fehlerbekämpfung


Wenn während einer Übung ein Fehler auftritt, kehrt man zu den Grundlagen zurück. Man bringt die Pferdebeine wieder zurück auf die zu reitende Linie ohne Übertreten. Man repariert Tempo und Trittlänge und fängt dann wieder an, die Kruppe weichen zu lassen.


Oft macht es Sinn eine 10m Volte auf dem einfachen Hufschlag zu reiten bevor man den nächsten Seitengang einleitet, da dies hilft, die äußere Schulter aufgrund der wendenden Hilfen mit dem äußeren Zügel zu verbinden und es hilft dabei, den inneren Hinterfuss mit dem inneren Schenkel zu verbinden, wenn man das innere Hinterbein leicht Zirkel vergrößernartig aktiviert. Damit schafft man eine günstige Ausgangssituation für den nächsten Versuch, die Kruppe nach innen weichen zu lassen.


Fazit: Der Rote Faden


Von dieser kurzen Fallstudie kann man einen gewissen Roten Faden extrapolieren, dem man als allgemeine Richtlinie folgen kann.

  1. Fußsetzung a) Zu reitende Linie, Tempo, Trittlänge b) Kruppe weichen lassen
  2. Gewichtsverteilung bestimmen (Gewicht in die Bewegungsrichtung verlagern)
  3. Seitenbiegung
  4. Beizäumung

Es gibt in dieser Reihenfolge sicherlich eine gewisse Flexibilität. In der Reiterei ist kaum etwas in Stein gemeißelt. Beispielsweise könnte man auch erst das Gewicht verlagern, um damit das Weichen der Kruppe vorzubereiten. Besteht man jedoch zu sehr auf der Beizäumung bevor das Pferd auf die Linie gebracht wurde und seine Balance gefunden hat, macht man es ihm sogar noch schwerer sich auf die Linie auszurichten und sein Gleichgewicht zu finden und man wird eventuell die Hinterbeine daran hindern unter den Körper zu treten und sich in ihren oberen Gelenken zu beugen.


Wenn Sie das nächste Mal eine Lektion reiten, können Sie sich fragen: Was ist das wesentlichste Merkmal dieser Lektion? Was wäre ein Schritt in die Richtung dieses Merkmals? Nehmen Sie dies zum Ausgangspunkt. Dann arbeiten Sie sich von diesem sehr elementaren Merkmal vor in Richtung Verfeinerung. Verlieren Sie jedoch nicht die zu reitende Linie, das Tempo, die Trittlänge und die Balance (Gewichtsverteilung) aus den Augen, während Sie versuchen, Details wie Biegung und Beizäumung zu verbessern. Dadurch entsteht ein Fundament, auf dem nach und nach anatomisch richtige und gymnastisch wertvolle Lektionen aufgebaut werden können, die es verdienen, Schulterherein oder Kruppeherein oder Traversale genannt zu werden.